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Nachlass "Familienhörbuch": Weil die Stimme bleibt

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		Nachlass

Von Ute Teubner

Plankstadt. "Familie Kraft" steht auf dem Klingelschild, neben dem geschmückten Tor. Darunter: "Christian und Sarah, Matilda und Lotta" (alle Namen von der Redaktion geändert). Das kleine Haus in der 10.000-Einwohner-Gemeinde Plankstadt wirkt einladend, selbst an diesem trüben Wintertag. "Kommen Sie herein", sagt Sarah Kraft und lächelt. Drinnen ist es warm und behaglich. Aufgeräumt, aber nur so, dass sich gemütliche Einrichtung und liebevolle Deko voll entfalten können. Ein Nest. Und überall: Basteleien, Fotos, Bilder – von den Kindern. Ja, hier wohnt eine Familie, denke ich, während es schon nach Kaffee duftet.

"Ihre Lebenszeit ist begrenzt." Das waren die Worte des Strahlenonkologen, die die junge Mutter wie ein Schlag in die Magengrube trafen. Damals, vor knapp einem Jahr. Da hatte Sarah Kraft bereits den Brustkrebs besiegt, mit dem sie seit 2019 lebt, einen Umzug mit zwei Kleinkindern gemeistert und soeben eine Not-OP am Kopf gut überstanden. Denn der "Arschlochkrebs" war zurückgekehrt. Aber nun sollte doch endlich alles gut werden. Im frisch renovierten Eigenheim, mit Mann Christian, der fünfjährigen Matilda und Lotta (3), dem Nesthäkchen. Und dann das: Vielleicht ein paar Monate, vielleicht wenige Jahre. Prognose: unheilbar.

Und jetzt? Jetzt sitzt mir die 35-jährige Frau gegenüber am Tisch, nippt genüsslich am Kaffeebecher und erzählt. Davon, dass sie "im Grunde ein ganz normales Leben" führe: dass sie sich auch mal ärgert, "wenn mein Mann die Socken liegenlässt und die Kinder nerven". Im September hat die studierte Sozialarbeiterin wieder angefangen zu arbeiten – "die Gedanken sollen um etwas anderes kreisen als um die Krankheit". Denn gerade geht es ihr gut. Auch, weil schon alles geregelt ist. "Gemeinsam mit meinem Mann bereite ich mich in Ruhe auf mein Ableben vor", sagt sie. Die Vorsorgevollmacht liegt schon in der Schublade. Vor allem aber hat Sarah Kraft nun eine Antwort, wenn ihre Töchter einmal fragen werden: Wer war meine Mama?

Elf Stunden lang ist sie geworden, diese Antwort. Sie nennt sich "Familienhörbuch" und ist eine Reise durchs eigene Leben und ein Zukunftsgeschenk für die Hinterbliebenen. Dabei wird die individuelle Lebensgeschichte aufgezeichnet – Erinnerungen und Erfahrungen werden "hörbar" gemacht. Damit etwas bleibt, wenn man geht. Wie ein Fingerabdruck. Die Stimme, dieser einzigartige Klang, und doch die erste Erinnerung, die verblasst – obwohl sie das Erste ist, was ein Mensch zu Beginn seines Lebens hört.

Sarah Kraft ist eine von über 150 schwer erkrankten Müttern und Vätern, die im Rahmen des Familienhörbuch-Projekts für ihre Kinder erzählen. Junge Eltern mit lebensverkürzender Diagnose, die alle dieselben Sorgen teilen: Wie kann ich meine Kinder aufs Leben vorbereiten? Was kann ich ihnen mitgeben? Was möchten sie wohl später von mir wissen? Auch Judith Grümmer stellte sich vor 33 Jahren die Frage: "Was würde ich angesichts einer tödlichen Diagnose tun?" Damals beschäftigte sich die Kölner Hörfunkjournalistin mit Palliativthemen und war gerade erstmals selbst Mutter geworden. Die Antwort sei klar gewesen: "Ich würde den Kassettenrekorder vollquatschen." Die Idee des Familienhörbuchs war geboren.

Jahre später nahm das Herzensprojekt der heutigen Audiobiografin Formen an. 2017 entstanden die ersten 25 Hörbücher, finanziert über eine Stiftung. Diese wurden im Rahmen einer dreijährigen Pilotstudie vom Universitätsklinikum Bonn wissenschaftlich begleitet. Um das Angebot für junge schwerstkranke Mütter und Väter auch im Anschluss weiterhin kostenfrei und wissenschaftlich begleitet bundesweit umsetzen zu können, gründete Judith Grümmer im Herbst 2019 die als gemeinnützig anerkannte Familienhörbuch gGmbH. Und obwohl man sich seither von Spendenmonat zu Spendenmonat hangelt – die Produktion eines Hörbuchs schlägt mit 5000 bis 6000 Euro zu Buche – sind bis heute insgesamt rund 100 Familienhörbücher entstanden. Die Nachfrage ist groß: Pro Woche gebe es zwei bis sechs Bewerbungen erkrankter junger Eltern, sagt Grümmer. Ihr Ziel ist es daher, über eine Kooperation mit möglichen Kostenträgern wie Krankenkassen das Familienhörbuch bundesweit als therapiebegleitendes Angebot zu etablieren. "Damit möglichst viele Projektbewerber, die mit einer lebensverkürzenden Diagnose konfrontiert sind, ein Hörbuch erhalten können."

Als ich die Zusage bekam, habe ich geweint, weil ich da wusste: Ich bin wirklich sehr krank", erinnert sich Sarah Kraft. Aber, so Judith Grümmer: "Man stirbt ja nicht, weil man ein Familienhörbuch aufnimmt." Im Gegenteil: Es sei wichtig, so früh wie möglich darüber nachzudenken. Und auch Sarah Kraft, die selbst wenig über ihren früh verstorbenen Vater weiß, bestätigt: "Das ist wie ein Befreiungsschlag, einfach entlastend. Ich bin jetzt zwar noch nicht bereit zu sterben, aber darauf vorbereitet – und das hilft!" Eigentlich, meint sie, sollte das jeder machen. "Man schiebt es nur weg, weil das Thema unangenehm ist."

Hinter der Plankstadterin liegen mehrere Tage intensiver Gespräche mit Claudia Kattanek, einer der Familienbuch-Audiobiografen. Von ihr habe sie sich "sehr gut angeleitet und begleitet" gefühlt. Alles online von zu Hause aus, doch auch ein persönliches Treffen wäre möglich gewesen. Sarah Kraft hat über die alte Clique und Oma Grete geredet, über die Zeit in der Disco und den Urlaub im Allgäu, über die Hochzeit, die Geburten und die Taufe der Kinder – darüber, was ihr wichtig war und ist im Leben. Ein Mosaik, das am Ende ein Bild von dem Menschen ergibt, der fehlen wird, irgendwann einmal.

Musik von Michael Jackson und den Backstreet Boys ist zu hören, die Jugend, von der auch die Kapitel "Bravo und Mickey Mouse" oder "Gameboys und Poesiealben" erzählen. Mehr als 60 sind es letztlich geworden. "Was habe ich nicht alles erlebt", staunt die junge Frau selbst. Und nur zwei davon greifen die Krankheit auf. Denn: "Für die Lieben meines Lebens", so der Titel dieses Familienhörbuchs, gibt es Wichtigeres.

Das "Hör-Stück" mit der eigenen Stimme im Originalton, vielen akustischen Elementen und Musik wurde mit modernster Technik produziert. Judith Grümmer kann mittlerweile auf ein 54-köpfiges Team aus speziell geschulten Audiografen, Tontechnikern, Profimusikern und Ehrenamtlichen zurückgreifen, das für professionell geführte Interviews, Tonschnitt und dramaturgische Ausgestaltung der Familienhörbücher zuständig ist. Zwei ehrenamtliche Psychoonkologinnen kümmern sich bei Bedarf um die psychologische Unterstützung der Teilnehmer und der Audiobiografen – denn auch für sie ist die Arbeit nicht immer leicht.

Das Projekt wird weiterhin wissenschaftlich begleitet. Das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg hat sich kürzlich ebenfalls eingeklinkt. Die Evaluation bestätigt: Die (Aufarbeitungs-)Arbeit an der Audiobiografie hilft den betroffenen Elternteilen, besser mit der Situation zurechtzukommen, dass ihre Lebenszeit verkürzt ist; die Möglichkeit, ihren Kindern mit dem Audiobuch etwas zu hinterlassen, erweist sich trotz des Aufwands als große Erleichterung. Die Rückschau hilft, mit der Erkrankung umzugehen, Kraft zu schöpfen aus der eigenen Lebensgeschichte. Sie ist wichtig, um in Frieden Abschied nehmen zu können.

Mit dem Erzählen werde der Blick von Krankheit und Verlust "auf die Fülle des gelebten Lebens" gelenkt, erklärt Familienbuch-Initiatorin Judith Grümmer. "Während alle nur über den Tumormarker reden, reden wir zum Beispiel über den ersten Kuss. Wir feiern das Leben", betont sie, "denn wir schauen nicht auf die Defizite, sondern auf das Erlebte – auf die Scheune, nicht auf das abgeerntete Feld." Gerade für Palliativpatienten sei es wichtig, nicht im Schweigen zu verharren. Ist erst einmal alles erzählt, könne der Blick wieder auf das Hier und Jetzt gerichtet werden, mit der Gewissheit: "Ich habe etwas von meinem Leben erzählt. Ein Stück Familienchronik weitergegeben."

Und die Kinder? Für sie werden die Hörbücher nach dem Tod des Elternteils zum Begleiter auf ihrem langen Weg der Trauer. Sie werden zum Tröster in schweren Zeiten. Ein letztes Geschenk. "So habe ich immer noch ein Stück von ihr, ein Stück von ihrer Geschichte", sagt beispielsweise die 16-jährige Pauline aus Stuttgart, die vor sechs Jahren ihre Mutter verlor und deren 2014 entstandenes Familienhörbuch das erste dieser Art ist. Die Stimme ihrer Mutter trägt sie immer auf dem Handy bei sich. "Ihr Lachen, ihr Weinen – ich habe das alles noch."

Auch Matilda und Lotta sollen einmal an den Erinnerungen und Erfahrungen ihrer Mama teilhaben können – später, wenn sie alt genug sind. Der Wunsch von Sarah Kraft: "Ich möchte meinen Kindern etwas hinterlassen und Botschaften mit auf den Weg geben." Etwa: "Jeder ist gut so, wie er ist." "Jeder hat seine Begabungen." Und: "Jeder hat die Fähigkeit, Krisen selbst zu bewältigen." Wer, wenn nicht sie selbst, könnte dies glaubhaft vermitteln. "Ich habe mir nie die Frage nach dem Warum gestellt", sagt die 35-Jährige gelassen. "Ja, der Krebs gehört zu meinem Leben, und mit genau diesem Leben beschäftige ich mich mehr als mit meiner Krankheit und dem Tod – ich habe keine Angst."

Wie man mit einer Diagnose umgehe, sei eine "Haltungsfrage", weiß Judith Grümmer aus ihrer alltäglichen Arbeit: "Manche lassen direkt danach die Flügel hängen, andere fahren mit dem Fahrrad zur Chemotherapie." Sarah Kraft gehört zur zweiten Kategorie. Daran gibt es keinen Zweifel. Ihr Familienhörbuch will sie sich demnächst mit ihrem Mann anhören. Und in einigen Jahren am liebsten gemeinsam mit ihren beiden Töchtern. Vor allem das letzte Hörbuchkapitel: "Die Geschichte von den Fröschlein in der Sahne". Der eine gibt auf und ertrinkt, der andere strampelt so lange, bis die Sahne steif ist und er quicklebendig aus dem Topf springen kann ... Genau: Kämpfen lohnt sich.

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