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Bis zum Beweis des Gegenteils

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Am Freitag war ich dann doch erst kurz nach ein Uhr zuhause. Ich hatte mich nach dem Spiel kurz mit dem Kollegen Spoo getroffen, außerdem das Auto recht weit entfernt parken müssen, die Ultras hatten das Spielfeld für 5 Minuten vernebelt und auf der A61 gab es einen Stau, der mich zu einem veritablen Umweg zwang. Außerdem hatte es eine lange Nachspielzeit im Borussia-Park gegeben. Und die ging zum weitaus größten Teil auf das Konto der Videoassistenz für Schiedsrichter, unnötig eingeenglischt als VAR. Weil es so spät war, habe ich die Festivität, zu der ich in der Nachbarschaft am Abend eingeladen war, dann doch nicht mehr aufgesucht. Womit mal wieder der Beweis erbracht ist, dass der vom Fernsehen euphorisch als “Videobeweis” betitelte Eingriff in den Fußball vor allem ein Killer jeglicher Partystimmung ist.  

Am Freitag, gleich zu Beginn der neuen Saison, der achten mit einer Videounterstützung aus Köln, wurde deutlich, dass auch im achten Jahr niemand der Verantwortlichen daran denkt, die Kritikpunkte an diesem Verfahren zu beseitigen, die seit dem ersten Tag die gleichen sind, und die vor allem Stadionbesucher auf die Barrikaden treibt. Es gab mal wieder die ganze Bandbreite dessen zu bestaunen, was falsch läuft, und wie hilflos und ohnmächtig Schiedsrichter und Videoschiedsrichter sich den Schwierigkeiten gegenübersehen. Ausbaden mussten es vor allem auch die Zuschauer auf den Rängen, deren Belange allen Beteiligten allerdings völlig egal sind. Sind ja eh Chaoten, die immer nur zündeln. Alle, ausnahmslos. Es war wieder so schön zu beobachten, wie man versuchte, die späte Fehlentscheidung dem zündelnden Anhang der Nordkurve in die Schuhe zu schieben, sonst “wäre ja nicht so lange nachgespielt worden!” Man muss schon selten dämlich sein, um nicht zu verstehen, dass das natürlich Unfug ist, schließlich wurde die Nettospielzeit dadurch eher verkürzt statt verlängert. Aber das lenkt ja prima davon ab, dass die Verlängerung vor allem dadurch bedingt waren, dass diverse Entscheidungen des bemerkenswert unsicheren Schiedsrichterteams um Robert Schröder langwierig überprüft werden mussten. Und trotzdem falsch blieben bzw. falsch gemacht wurden.  

Beleuchten wir die Szenen kurz: Ein klares Halten von Rocco Reitz wurde nicht geahndet, und man muss es so unsportlich sagen: Er lässt sich halt nicht fallen. Das ist toll von ihm und zeugt von Sportsgeist, aber der ist nicht gewünscht. Schiedsrichter Schröder hatte die Szene gesehen, hatte sie als nicht elfmeterwürdig eingestuft und entsprechend korrekt hatten die Schiedsrichterassistenten in Köln nicht eingegriffen. Leider mussten sie das aber bei der nächsten Szene tun, weil es sich um eine Torerzielung handelte. Tim Kleindienst erzielte ein Tor, berührte dabei Gegenspieler Hincapie, der sich mit einer Sekunde Verzögerung, nämlich erst als der Ball im Tor war, schreiend am Boden wälzte und suggerierte, dass eine Fersenamputation wohl unmittelbar durzuführen wäre, weil sich der Fuß schon im Stadium des Wundbrandes befand. Angesichts des schließlich zu betrachtenden Kontakts, also einer Berührung, die angeblich dazu führte, war dieses Verhalten eine grobe Unsportlichkeit und mieses Simulantentum, aber – wir vergleichen die Situation mit Reitz oben – eben erfolgreich, weil es die Aufmerksamkeit der Schiedsrichter auf diesen Zweikampf lenkte und man entschied, dass ein strafwürdiges Foul vorliegen musste. In der Nachbetrachtung der Medien war dann auf einmal aus der Berührung (wir glauben, zugegebenermaßen einigermaßen parteiisch, Tim Kleindienst an dieser Stelle einfach einmal, dass er selbst diese nicht einmal wahrgenommen hat) ein “Tritt in die Achillessehne” geworden. Und der Fußball wieder vermeintlich ein Stück gerechter. Also, wenn man die Interpretation eines Videobildes für unfehlbar hält.  

Die beiden anderen Gladbacher Tore wurden in epischer Breite überprüft, ob man nicht doch noch ein Körperteil entdecken könnte, dass sich Abseits befinden hätte können (beim 1:2), bzw. ob sich nicht einfach irgendetwas Beliebiges finden ließ, was man beim 2:2 hätte bemängeln können (z.B. eine Berührung des Gegenspielers bei der Torerzielung). Aber offensichtlich gab es einfach keine entsprechenden Kameraperspektiven. Dafür hatte man diese dann in der 8. Minute der Nachspielzeit (weit länger hatten Herr Schröder und seine Jungs in Köln auf Stadionbesucherkosten während der Halbzeiten Fernsehen geguckt und dafür das Spiel angehalten) gefunden. Und die hatte man dann Herrn Schröder auch noch einmal vorgespielt. Selbst das Fernsehen, mit weit weniger Kameraperspektiven ausgestattet als die Schiedsrichter in Köln, fand diverse Einstellungen, die eindeutig eher dafür sprachen, dass Itakura den Ball klar gespielt hatte. Zu nennen sind als Indizien, dass der Ball klar und mit Wucht aus dem Strafraum gespielt wurde, die Berührung von Adlis Fuß aber erst deutlich später stattfand. Offensichtlich wurde Schröder aber nur eine Kameraeinstellung gezeigt, in der man den gegenteiligen Eindruck haben konnte, und nach vielen Minuten revidierte er seine ursprüngliche Entscheidung und damit das sportliche Ergebnis des Spiels.

Während all dieser Vorgänge stand bzw. saß man als Stadionbesucher ahnungslos herum. Mein Handy versagte am Freitag mehr oder wenig ständig den mobilen Datentransfer und so dauerte es sehr lange, bis der fernsehende Teil der Redaktion verlässliche Einschätzungen liefern konnte. Es wird zurecht vielfach behauptet, dass der VAR das Stadionerlebnis deutlich schlechter gemacht hat, weil er keine ungehemmte Freude mehr zulässt. Wo früher ein kurzer Blick zum Schiedsrichter reichte, ob der Arm zum Anstoßpunkt zeigte, muss man heute bis zum Anpfiff des Spieles warten, ob man sich freuen kann. Das nervt wirklich jeden. Fairerweise muss man sagen, dass zwar an der Stelle Emotionen abgebaut werden, andererseits, und das will man nicht verschweigen, hat es eine gewisse Wucht, wenn wie am Freitag ein ganzes Stadion von 54,000 Zuschauenden bis auf ein paar wenige Hanseln aus dem nahen Leverkusen gemeinschaftlich der Ansicht ist, soeben durch einen "Videobeweis" betrogen worden zu werden. Und in diesem Fall sogar zurecht.

Denn das ist der nicht aufzulösende Widerspruch in dem Verfahren: Selbstverständlich kann der VAR schlimme Fehlentscheidungen verhindern. Das wird niemand ernsthaft bestreiten wollen. Nicht geahndete Handspiele beispielsweise, man stelle sich vor, Edgar Steinborn hätte vor 20 Jahren ein Korrektiv gehabt. Gleichzeitig ist aber ein interessantes Phänomen zu beobachten: Die verbleibenden Fehlentscheidungen, und die sind eben immer noch beträchtlich in der Anzahl, werden umso schlimmer empfunden. Je nachdem, ob man es mit der Mathematik oder mit der Philosophie hält, wird man den Gerechtigkeitszuwachs also unterschiedlich betrachten. In der Seitenwahl-Redaktion sind wir uns da durchaus uneinig. Nur mehrheitlich beantworten wir die Frage nach dem Videobeweis so, dass die Vorteile die Nachteile einfach nicht rechtfertigen. Beispiel Abseitsentscheidungen: Es dauert immer noch, nach 7 Jahren, unterirdisch lange. Dabei ist das sogar eine recht simple schwarz-weiß Entscheidung. Persönlich würde ich es vorziehen, die Regel einfach so zu ändern, dass für den Schiedsrichterassistenten (und zwar den im Stadion) eine Abseitsstellung im Moment der Ballabgabe zweifelsfrei erkennbar sein muss, sonst lässt der die Fahne unten. Die deutschen Schiedsrichter sind so gut, dass Fehlentscheidungen, also ein klares und offensichtlich Abseits von mehr als sagen wir mal 50 Zentimetern, äußerst selten wäre. Damit könnten sicherlich alle leben und dann hätte es etwas damit zu tun, wofür die Regel geschaffen wurde. Sicherlich kann die Technik beim halbautomatischen Abseits auch einen Zeh im Abseits gut auflösen. Die Frage ist einfach, ob man wirklich will, dass das dann Abseits ist.

Wie hilflos mit der Technik agiert wird, und das nach so langer Zeit, rechtfertigt also einfach nicht deren Einsatz. Wann wird eingegriffen, wann nicht? Ein nicht einmal wirklich klares Foul drei Minuten vor Torerzielung führt nachträglich zur Aberkennung eines Tores. Eine falsche Eckenentscheidung drei Spielsekunden vorher nicht. Handspiele werden ohnehin trotz allen Videostudiums wie der Vogelflug ausgelegt. Foulsituationen (beliebtes Beispiel: Foul nach Torabschluss) sind mal ein klarer Elfer oder kein Fall für den VAR. Die Liste ließe sich nahezu beliebig fortsetzen.

Also einfach weg damit? Das würden sicherlich viele unterschreiben, allerdings stellen sich zwei Fragen: Was würde passieren, wenn die Aachener Handballer in einem Spiel nach Abschaffung wieder aktiv würden und steinbornsches Refereeing eine Wiederkehr feierte? Also wie würde man mit Fehlentscheidungen, die sich leicht per Video auflösen ließen, umgehen? Würde man sich dann noch daran erinnern, dass ein klares Videobild gelegentlich trotzdem zu falschen Entscheidungen führte? 

Und zweites darf man nicht vergessen, wer die treibenden Kräfte in dem Werben um die Einführung war: Das Fernsehen und seine Protagonisten wurden nie müde, die Vorzüge zu loben. Schließlich wertet der Videobeweis den Fernsehkonsum eines Fußballspiels gegenüber dem Erleben im Stadion ganz enorm auf. Die Interessen der Fans im Stadion sind da natürlich völlig egal. Apropos: Erzürnt von den Ereignissen am Freitag hat das Fanprojekt Mönchengladbach nun in einer Petition die Abschaffung des VAR gefordert. Daran ist natürlich gar nichts falsch, also, außer dass man “Assistant” nicht mit “e” schreibt. Aber sie hat eben auch aus den genannten Gründen äußerst wenig, sind wir deutlich, überhaupt keine Aussicht auf Erfolg. Die Geister wurden gerufen, die Geister gehen nicht mehr weg. Obwohl ... nun ja, vielleicht wird es doch mal wieder Zeit für Tennisbälle auf dem Fußballplatz. Zum Beispiel nach der nächsten VAR-Unterbrechung.

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