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"Wir leben seinen Traum": Wie die Eltern nach Jamies Tod neuen Mut schöpfen

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Von Alexander Albrecht

Worms. Dieser verdammte Krebs. Der tapfere Jamie Neiß aus Worms hat am 19. Mai 2019 den Kampf gegen die Leukämie verloren – einen Tag vor einer geplanten Stammzellentransplantation in der Uniklinik Jena. Er wurde nur acht Jahre alt. Ein persönliches Gespräch mit seinen Eltern Peggy (39) und Klaus Neiß (53) über den schweren Schicksalsschlag und wie sie lernen, wieder aufzustehen. Mit einem eigenen Tee-Shop und für ihren älteren Sohn Nico.

Frau Neiß, Herr Neiß, Sie haben vor eineinhalb Jahren Ihr Kind verloren. Wie kann man sich Ihr Leben danach vorstellen?

Klaus Neiß: Du wirst nie darüber hinwegkommen, aber du versuchst, einen Weg zu finden, damit zu leben. Ich habe seit dem 19. Mai 2019 nicht mehr nachts geschlafen. Bei mir ist jede Nacht der 19. Mai. Ich war alleine mit Jamie, als es passierte. Er ist in meinen Armen gestorben. Bis du das wegkriegst im Kopf – das dauert.

Peggy Neiß: Wir versuchen, für unseren älteren Sohn Nico, er ist kürzlich zwölf geworden, am Tag zu funktionieren und stark zu sein. Er war ja genauso ein Wunschkind. Wenn aber in der Nacht das Hirn mal runterkommt und Ruhe hat, …

Klaus Neiß: … dann geht deine Hölle los. So lange wir hier im Shop rumrödeln, ist das kein Thema.

Peggy Neiß: Ich habe im Garten mal eine Malve geerntet und bekam plötzlich das Gefühl, Jamie steht neben mir. Das klingt so blöd, aber er war da. Und dann sah ich eine weiße Feder. Man sagt, dann ist ein Schutzengel bei dir. Danke Jamie, habe ich mir gedacht, das war ein Zeichen. Wir machen weiter.

Wir treffen uns hier im Keller Ihres Hauses in Worms. Sie betreiben von hier aus einen Online-Tee-Shop mit mehr als 400 Produkten. Jamies Erbe?

Peggy Neiß: Ja, wir leben seinen Traum.

Warum Tee?

Peggy Neiß: Jamie hat während des dritten Chemo-Blocks in der Heidelberger Kinderklinik seine Geschmacksnerven verloren. Also bin ich losgezogen und habe Gummibärchen und Tee gekauft. Tee hat funktioniert, und ich habe gefühlt Tonnen davon in die Klinik gebracht.

Klaus Neiß: Wir haben zehn, fünfzehn Mal am Tag den Geschmack gewechselt. Jamie meinte, es sei doch schade, dass wir nicht unseren eigenen Tee haben. Das war das Schlagwort.

Peggy Neiß: Ehrlich gesagt haben wir das aber zunächst nicht für bare Münze genommen, ...

Klaus Neiß: ... bis Jamie 2017 für palliativ erklärt wurde. Wir haben uns zusammengesetzt und waren uns einig, dass wir was machen müssen, eine Art Erbe. Wenn nicht jetzt, wann dann. Jamie lebte noch, als der Online-Tee-Shop 2018 eröffnete. Er und Nico gaben "JaNi" ihren Namen.

Wie funktioniert der Shop?

Klaus Neiß: Jamie hat eine klare Ansage gemacht: Maschine ist tabu. Weil man den Tee fühlen, riechen, schmecken muss. Wir machen alles per Hand: die Mischungen, die Etiketten, das Abfüllen und das Verschweißen.

Peggy Neiß: Wir kaufen die Rohware für die Kräutertees ein und verarbeiten sie hier in der wahrscheinlich kleinsten Manufaktur in Deutschland. Bei den aromatisierten ist es anders, zum Beispiel bei "Jamies Tee" mit fast 100 Prozent natürlichem Erdbeeraroma. Den können wir nicht selbst herstellen. Dazu fehlen uns die Maschinen und Gerätschaften, das übernimmt eine Firma in Hamburg. Im Wesentlichen versenden wir die Tees. Mehr können wir nicht standhalten. Manchmal merke ich nach drei Stunden, dass ich kippe, manchmal sind es vier oder fünf. Wir lernen dieses Jahr wieder aufzustehen, laufen können wir noch nicht. Dafür ist zu viel passiert.

Ihre Kräuter und Tees sollen auch Krebspatienten helfen.

Klaus Neiß: Du kannst mit drei Kräutern keinen Krebs heilen, das schafft nur die Schulmedizin. Wir versuchen, beides miteinander zu verbinden.

Peggy Neiß: Ich habe mich intensiv mit Klostermedizin befasst und eine Ausbildung zur Kräuterpädagogin gemacht. Jamie hat in Jena eine hochdosierte Chemo bekommen, und die Schleimhäute sind aufgegangen, was ja typisch ist. Dann kam eine Schwester mit Eichenrinde. Das helfe besser als Kortison, meinte sie. Wir haben das draufgeschmiert, und nach jeder Stunde wurde es besser. Wir arbeiten nicht gegen die Medizin, sondern mit ihr. Ich lasse mir bei Beratungen unterschreiben, dass der Betroffene mit dem Arzt spricht, ob es Probleme mit einem Kraut gibt. Ist das nicht der Fall, gebe ich eine Empfehlung.

Herr Neiß, Sie betreuen ehrenamtlich viele Krebskranke oder ihre Angehörigen. Warum tun Sie sich das an?

Klaus Neiß: Ich bin kein Arzt und kein Heilpraktiker. Aber ich weiß, wie es Menschen in solchen Situationen geht. Ich will den Spezialisten nicht ihr Wissen absprechen. Die wissen schon, wovon sie reden. Sie haben es jedoch nicht selbst erlebt. Es versteht nicht jeder, dass du manchmal nicht funktionierst. Da hörst du ein Lied im Auto und dann ist Ende. Du fährst auf einen Parkplatz und weinst zwei Stunden. Oder du stehst im Einkaufsmarkt und kannst keinen Lauch anfassen, weil Jamie Lauchtopf geliebt hat. Einmal hat mich jemand gefragt, warum ich kein Geld nehme. Ich habe gesagt, wenn ich jetzt 500 Euro verlangt hätte, hättest du das bezahlt. Weil ich es auch getan hätte. Wenn du nach dem letzten Strohhalm greifst, spielt Geld keine Rolle mehr.

Sie haben sich selbst keine professionelle Hilfe gesucht?

Klaus Neiß: Meine Frau ist meine Psychologin und ich ihrer. Es erfüllt mich mit Stolz, was Jamie geschafft hat und was wir alles in den dreieinhalb Jahren nach der Diagnose noch gemeinsam erlebt haben. Ich rate davon ab, auf Prognosen zu hören. Als Jamie palliativ wurde, hat uns ein Arzt 48 Stunden gegeben. Es wurden eineinhalb Jahre, und wir haben die Welt auf den Kopf gestellt. Du bekommst Hilfe, wenn du willst. Menschen, die ein todkrankes Kind haben, glauben oft, dass die Leute auf sie zukommen müssen. Aber die wissen nicht wie oder haben Angst. Jamie wollte in den Dino-Park. Als wir das dem Arzt gesagt haben, wurde er kreidebleich. Drei Wochen davor war Jamie noch komatös. Wir haben es unter bestimmten Vorkehrungen gemacht. Nach 20 Minuten hat Jamie gesagt: Papa bleib‘ mal stehen. Er ist raus aus dem Rollstuhl und nicht wieder rein. Das hat ihm einen richtigen Kick gegeben.

Peggy Neiß: Die Heidelberger Kinderklinik hat uns sehr viel Rückendeckung gegeben. Die Ärzte gaben uns Medikamente mit und sprachen mit Kollegen von Krankenhäusern vor Ort, die Blutkonserven haben. Ein Mediziner hat zu mir gesagt, wir hätten so schnell und so viel für Jamie getan, weil wir wussten, dass er nicht viel Zeit hat. Wir wollten keinen Pflegedienst zu Hause. Wir haben während der Palliativphase von Profis gelernt, wie man Infusionen legt und Blut stillt.

Klaus Neiß: Jamie hatte viele verrückte Ideen. Einmal hat er ein Bild vom Ungeheuersee am Pfälzerwald gesehen und beschlossen, dass wir da hinfahren. Vom Parkplatz aus habe ich ihn acht Kilometer zum See getragen, wo wir gepicknickt haben. Auch das Klinikpersonal ist dankbar, wenn man Eigeninitiative zeigt. Es ist ja dein Kind, und du kannst den anderen nicht alles überlassen. Unsere Botschaft ist: Nutzt die Zeit, die kann man nicht kaufen. Und haltet zusammen.

Sie sind sehr offen mit der Krankheit Ihres Sohnes umgegangen und haben viel Solidarität erfahren. Wie war es, als Jamie eingeschlafen ist?

Peggy Neiß: Wir haben uns komplett zurückgezogen. Es war Nico, der es geschafft hat, uns da wieder rauszuholen. Wir möchten kein Mitleid, und inzwischen sind wir wieder so weit, auf andere zuzugehen. Man hat uns sehr viel Menschlichkeit entgegengebracht. Jetzt versuchen wir, das zurückzugeben.

Sie haben von Nico gesprochen. Wie geht es ihm?

Peggy Neiß: Er redet nicht drüber. Im ersten Dreivierteljahr nach Jamies Tod hat Nico nicht mehr für sich existiert. Er machte das, was Jamie gemacht hatte und hat zum Beispiel mit seinen Spielsachen gespielt. Wir mussten einen Break machen und haben ihn gefragt, was er eigentlich möchte. Heute legt er abends vor dem Schlafengehen einen Glücksstein auf Jamies Tisch, malt ein Bild für ihn oder holt sich eines von Jamies Plüschtieren. Er vermisst seinen Bruder sehr. Jamie war auch sein bester Freund. Nico hat in den dreieinhalb Jahren Behandlung nie gemault oder sich darüber beklagt, was er alles nicht machen kann.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Klaus Neiß: Als Jamie gestorben war, habe ich damit begonnen, ein Buch zu schreiben. Da steht alles drin, was wir erlebt haben. Aber auch Dinge, die wir nicht mehr geschafft haben. Wir haben uns geschworen, das alles abzuarbeiten. Der erste von uns beiden, der geht, nimmt das Buch zu Jamie mit und zeigt es ihm. Und natürlich würden wir uns gerne mit dem Shop eine Existenz aufbauen.

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