Flashback
Zur Halbzeit der Partie gegen den VfL Wolfsburg sollte dieser Text "Er ist wieder da" heißen und von einem Gerardo-Seoane-Bild eingeleitet werden. So sehr erinnerte der Auftritt der Gladbacher in den ersten ca. 60 Minuten dieser Partie an so manches Erlebnis in der bleiernen Seoane-Virkus-Zeit. Eine Mannschaft auf dem Platz, die nicht als solche auftritt. Schläfrig, unkonzentriert, blutleer leidenschafts- und wehrlos. Mit einer Abwehr, die nicht abwehrt.
Sollte der Matchplan von Seoane-Nachfolger Eugen Polanski gewesen sein, den Gegner sich an einer dicht gestaffelten Defensive abarbeiten zu lassen, wie es im Derby gegen Köln so gut geklappt hatte, so war der bereits nach weniger als vier Minuten über den Haufen geworfen. Wolfsburgs Herangehensweise erwies sich als goldrichtig: Mit vier bis fünf Mann liefen die Angreifer des VW-Marketing-Vehikels die Gladbacher Verteidiger an und unterbanden damit erfolgreich fast alle Aufbauversuche. Die Dreier-/Fünferkette geriet ein ums andere Mal in nackte Panik, wenn Wimmer, Majer, Eriksen und Amoura sich ihnen vor oder auf die Füße stellten. Außer Quer- und Rückpässen fiel den Borussen kein Mittel gegen die höchst aggressiv auftretenden Gäste ein, die ihre Spielweise mit einer bemerkenswerten Stringenz eine gute Stunde lang durchzogen. Und auch im Spiel nach hinten machte das Team von Daniel Bauer vieles richtig. Waren die Gladbacher doch mal länger als 30 Sekunden im Ballbesitz, waren die gerade noch pressenden Angreifer wie alle ihre Kollegen wieder gut gestaffelt stehend hinter dem Ball. Bei Borussia ging nichts zusammen. Der Ausgleich durch ein von Tabakovic erzwungenes Eigentor fiel völlig aus heiterem Himmel und brachte die Wolfsburger nicht im Geringsten aus dem Konzept – im Gegenteil, sie legten zwei Tore nach, bei denen es ihnen die Borussen-Defensive erneut sehr einfach machte.
Muss man angesichts dieser Nicht-Leistung überhaupt einzelne Spieler herausgreifen? Muss man erwähnen, dass Nico Elvedi nach einigen ordentlichen Auftritten wieder einen echten Elvedi-Tag hatte, in denen der Schweizer gelegentlich einfach komplett abzuschalten scheint? Muss man betonen, dass man Philipp Sander die fehlende Matchpraxis nach vier verpassten Pflichtspielen deutlich anmerkte? Dass Yannik Engelhardt kaum einen Ball an den Mann brachte? Dass Jens Castrop überhaupt nicht auf dem Platz zu sein schien? Dass Rocco Reitz sich wie immer redlich mühte, ohne dass ihm jedoch irgendeine Aktion gelang? Dass Shuto Machino ohne Bindung zum Spiel seiner Mannschaftskameraden und ohne erkennbare Abstimmung mit seinem Sturmpartner über den Platz irrt? Dass Giovanni Reyna nicht stattfand? Muss man nicht. Es war möglicherweise die schlechteste in einer an schlechten Halbzeiten bislang nicht gerade armen Saison.
Wenn die Borussen nach dem Spiel betonten, es sei die schwache erste Halbzeit gewesen, die ihnen das Genick gebrochten habe – und dass der zweite Durchgang viel besser gewesen sei, ist das nicht die ganze Wahrheit. Zunächst änderte sich nicht viel. Borussia war ein My energischer, das Wolfsburger Pressing aber machte ihnen zunächst noch weiter Probleme. Und kurz nachden Eugen Polanski mit Castrop und Reyna tatsächlich die schwächsten von zehn schwachen Feldspielern (neuneinhalb, Haris Tabakovic war zumindest mit Herz und Lunge dabei) vom Platz genommen hatte, schien sich die Niederlage zum Debakel auszuwachsen. Eine Großchance für Wolfsburg endete am Gladbacher Torpfosten, das vierte Tor wurde wegen einer haarscharfen Abseitsstellung für die Stadionzuschauer eher überraschend vom VAR kassiert. „Köln“ ließ insgesamt vier von sechs Treffern überprüfen, was zu deutlichen Unmutsbekundungen beim Gladbacher Anhang führte, wie die Wolfsburger Fans das fanden ist mangels Masse schwer zu beurteilen.
Zu diesem Zeitpunkt schwanden bei den Gästen merklich die Kräfte, die so erfolgreiche Spielweise war gleichzeitig eine kraftraubende. So fand Borussia ab der 65. Minute immer besser in die Partie. Der eingewechselte Mohya belebte das Spiel sichtlich und Kevin Stöger, auf dessen sich andeutende Einwechslung ein Teil der eigenen Fans mit Pfiffen reagierte, brachte tatsächlich so etwas wie Struktur in die Bemühungen des Teams und machte das, was man von ihm sonst nicht so kennt: Er spielte klare einfache Bälle. Eine gute Flanke mit dem starken linken Fuß führte zum vermeintlichen Anschlusstreffer, aber Tabakovic, der nach einem abgewehrten Kopfball des für Machino gekommenen Ranos abstaubte, stand knapp im Abseits. Was das menschliche Auge nicht erkennen kann, legen kalibrierte Linien offen. Wie konnten wir eigentlich weit über hundert Jahre ohne den Videoassistenten Fußball spielen? Und wie konnten Studierende Arbeiten ohne KI schreiben? Aber wir schweifen ab. Borussia mühte sich bis zum Schlusspfiff nun wirklich redlich, Tabakovic scheiterte einmal am Pfosten und Reitz mit einem Schuss am Kopf des eigenen Mitspielers. Dennoch hat die Schlussphase eines vollbracht: Das Seoane-Porträt bleibt im Archiv.
Festzustellen bleibt dennoch: Wie schon gegen St. Pauli im Pokal ist die „alte“ Borussia noch nicht tot. Für Eugen Polanski lautet die Aufgabe, dem Team die Neigung zum Phlegma ein für alle Male auszutreiben. Dass dafür auch Veränderungen im Kader nötig sein werden, liegt auf der Hand. Auch wenn die Verletzten nach der kurzen Winterpause zumindest teilweise wieder mitmischen können, bleibt der Kader zu schmal. Und darauf, verletzungsfrei durch die Rückrunde zu kommen, sollte sich niemand verlassen. Schön, wenn man Spielern wie Wael Mohya oder Fritz Fleck die Chance geben kann, sich in der Bundesliga zu beweisen. Aber eine Bank ganz ohne Verteidiger und mit einem einzigen halbwegs routinierten Feldspieler kann sich ein Verein in der Lage von Borussia Mönchengladbach nicht erlauben. Und die Lage, das sollte nach dem 14. Spieltag klar sein, bleibt prekär.

