Dreimal ist Bremer Recht
Weit vor Erfindung des Dschungelcamps erlangte Jürgen Hingsen 1988 bei den Olympischen Spielen in Seoul Berühmtheit, wo er als Mitfavorit im Zehnkampf nach drei Fehlstarts über die 100-Meter-Distanz disqualifiziert wurde. Borussia Mönchengladbach hat an den beiden ersten Bundesligaspieltagen bereits zwei fehlerhafte Versuche unternommen – einmal kläglich beim 0:0 gegen den HSV sowie einmal unglücklich beim 0:1 gegen den VfB Stuttgart. Das dritte Mal ist bekanntlich Bremer Recht und sollte daher unbedingt dem bislang ebenso sieglosen Gegner vom kommenden Sonntagabend überlassen bleiben. Ein Heimsieg wäre für Borussia gerade mit Blick auf die bevorstehenden Partien gegen Leverkusen und Frankfurt zur Abwendung eines solchen Fehlstarts enorm wichtig.
Knüpft die Mannschaft an die ordentliche Leistung aus Stuttgart an und entwickelt etwas mehr Torgefahr, so sollte dieses Unterfangen nicht unmöglich sein. Aber Vorsicht: Der SV Werder hat ein schwer einzuschätzendes Team mit einigen interessanten neuen Spielern in der Offensive, die zuletzt in Unterzahl einen 1:3-Rückstand gegen Vizemeister Leverkusen aufholen konnten.
Während Borussia noch immer auf sein erstes Saisontor in der Liga wartet, haben die Bremer in den ersten beiden Partien bereits vier erzielen können. Am Sonntagabend wird mit Victor Boniface ein ausgewiesener Torjäger hinzukommen, der kurz vor Ende der Transferperiode von Bayer Leverkusen ausgeliehen wurde. Der 24jährige Nigerianer dürfte den österreichischen Nationalstürmer Marco Grüll aus der Startelf verdrängen. Für Boniface gilt Ähnliches wie für Gio Reyna auf der Gegenseite: Von den Anlagen könnte er für sein neues Team eine überragende Verstärkung darstellen. Sorgen bereitet aber seine Verletzungshistorie, die ihn in den letzten Jahren regelmäßig für mehrere Monate außer Gefecht gesetzt hat, und wegen der er zuletzt beim AC Mailand durch den Medizincheck gerasselt ist.
Dennoch ist ein Vergleich der beiden Dauerverletzten nicht ganz korrekt: Anders als Reyna hat Boniface in den letzten Jahren regelmäßig starke Leistungen und in 42 Bundesligaspielen 22 Tore und 11 Vorlagen abgeliefert, sodass er auf Anhieb als Verstärkung eingeplant werden kann. Für den US-Amerikaner dagegen liegt die letzte überragende Bundesliga-Partie bereits fast fünf Jahre zurück, weshalb die Erwartungen gerade kurzfristig nicht zu hochgeschraubt werden sollten.
Neben Boniface hat Werder mit Cameron Puertas einen weiteren vielversprechenden Offensivakteur ausgeliehen. Der in der Schweiz geborene Spanier war erst im vorigen Jahr von Union Saint Gilloise zum Weigl-Klub Al-Qadsiah gewechselt, will sich jetzt aber lieber wieder in Europa für die bevorstehende WM empfehlen. Während er im zentralen Mittelfeld zuhause ist, kommt Samuel-Germain Kinduelu Mbangula Tshifunda über Linksaußen. Der 21jährige Belgier, den Werder für 10 Mio. Euro von Juventus Turin fest verpflichtet hat, wies zuletzt nach einer Kapselverletzung in der Vorbereitung noch etwas Trainingsrückstand auf. In Topform könnte er mit seiner Schnelligkeit eine gehörige Herausforderung für die Borussen-Abwehr darstellen.
Diese präsentierte sich nach den peinlichen Gegentoren im Pokal zumindest in den ersten beiden Ligaspielen erstaunlich solide und stellt mit nur einem Gegentor derzeit die statistisch beste Defensive der Liga. Gerade die rechte Seite, über die Mbangula angreifen wird, bereitet jedoch Sorgen. Joe Scally musste im Testspiel gegen Schalke 04 verletzt ausgewechselt werden, wird bis Sonntagabend aber aller Voraussicht nach wieder fit genug für einen Einsatz sein. Einen eindeutigen Ersatz für ihn gibt es nicht, da es Roland Virkus trotz des Abgangs von Stefan Lainer und den ohnehin sehr dürftigen Leistungen von Scally in den vergangenen Jahren nicht für nötig erachtet hat, auf dieser Position echte Konkurrenz zu schaffen. Diese penetrante Ignoranz der offensichtlichen Schwachstellen im Kader ist bei einer ganzheitlichen Bewertung des Geschäftsführers Sport unbedingt mit einzubeziehen. Neben den tatsächlich durchgeführten Transfers der letzten Jahre, die Kevin Schulte in der Länderspielpause hervorragend analysiert hat, sind es gerade die unterlassenen Veränderungen im Kader, die das Wirken von Virkus wirr wirken lassen.
Jens Castrop hat in Nürnberg zwar gelegentlich auf der rechten Abwehrseite ausgeholfen, dabei aber meist eine ähnlich unglückliche Figur abgegeben wie zuletzt in Stuttgart. Beim Testspiel gegen Schalke wurde Oscar Fraulo als Notlösung getestet, der bereits auf seiner etatmäßigen Position nicht gut genug für die Stammelf erscheint. Der sinnvollste Ersatz für Scally wäre daher wohl Kevin Diks, der allerdings zuletzt mit Nico Elvedi einen starken Eindruck in der Innenverteidigung hinterlassen hat. Dieses Duo sich nicht weiter einspielen zu lassen, sondern auseinanderzureißen wäre ebenfalls ein Risiko, wenngleich Fabio Chiarodia ein Einsatz gegen seinen Ex-Klub zu gönnen wäre.
Diese Defensivsorgen von Gerardo Seoane verblassen allerdings gegenüber dem, was Ex-Borusse Horst Steffen auf der Gegenseite zu bewältigen hat. Mit Stark, Weiser, Pieper und Wöber fallen vier Abwehrspieler aus. Zudem ist Friedl weiterhin angeschlagen, sodass sein Einsatz bis dato fraglich erscheint. Hinter der somit stark ersatzgeschwächten Abwehr steht mit Mio Backhaus ein talentierter, aber noch unerfahrener Keeper im Tor, der in seinen ersten beiden Bundesligapartien gleich siebenmal hinter sich greifen musste. Mit einem Startelfeinsatz bei der U21 konnte der Deutsch-Japaner zuletzt zwar Selbstvertrauen tanken. Trotzdem sollten sich für Borussias Offensive Chancen auf die ersten Ligatore dieser Saison bieten. Die größten Hoffnungen liegen auf den grundsätzlich torgefährlichen Robin Hack und Shuto Machino. Sollte der unter der Woche angeschlagene Franck Honorat ausfallen, könnte neben Machino der bislang wenig überzeugende Tabakovic eine erneute Chance erhalten. Oder aber Seoane beweist Mut und beruft Reyna direkt in die Startelf. Trotz fehlender Spielpraxis sollte der Amerikaner mit seiner überragenden Technik zumindest für den einen oder anderen genialen Pass gut sein, wie er zuletzt gegen Schalke 04 nachwies. Die Mechanismen des Geschäfts sind aber bei solchen vermeintlichen Toptransfers allzu bekannt: Leistet sich der neue Spieler nur ein paar schwächere Auftritte, so wird er in der Öffentlichkeit genauso schnell verdammt, wie er zuvor hochgelobt worden war. Es wäre daher gefährlich, von Reyna gleich in den ersten Wochen und Monaten Wunderdinge zu erwarten oder ihn gar mit einem Woltemade zu vergleichen. Bei ihm wird es stattdessen wichtig sein, ihn behutsam aufzubauen, damit er dem Verein möglichst langfristig wird helfen können.
Einem Kurzeinsatz des Ex-Dortmunders wird aber aufgrund der dürftigen Alternativen auf der Borussen-Bank wenig entgegenstehen. Obwohl derzeit mit Kleindienst und Ngoumou nur zwei potenzielle Stammspieler ausfallen, musste bislang bei etwaigen Auswechselungen ein gravierender Qualitätsverlust hingenommen werden. Mit Reyna und Engelhardt bieten sich Seoane jetzt neue Möglichkeiten, auf entsprechende Spielsituationen in der zweiten Halbzeit zu reagieren. Noch besser wäre es allerdings, wenn es die Mannschaft wie beim 4:1-Erfolg in der Vorsaison macht und dem SV Werder von Anfang keine Chance zur Entfaltung bietet.
Mögliche Aufstellungen
Nicolas – Scally, Elvedi, Diks, Ullrich – Reitz, Sander – Honorat, Stöger, Hack – Machino
Backhaus – Sugawara, Alvero, Coulibaly, Agu – Puertas, Lynen – Njinmah, Schmid, Mbangula - Boniface
SEITENWAHL-TIPPS
Michael Heinen: „Borussia verpasst den so wichtigen Heimsieg gegen Werder. Durch das leistungsgerechte 2:2 gerät Gerardo Seoane vor der Partie bei seinem Ex-Klub gehörig unter Druck.“
Christian Spoo: „Borussia präsentiert sich erstaunlich frisch. Es gibt die ersten Tore und die ersten Punkte, jeweils drei. 3:1.“
Michael Oehm: „Bei der Auswärtsniederlage in Stuttgart hat Borussia gezeigt, dass sie es eigentlich kann. Nur ist davon nach der Länderspielpause nichts mehr zu sehen. Nach dem 1:1 tritt Borussia weiter auf der Stelle.
Mike Lukanz: „Bremen hat gegen Leverkusen viel Selbstvertrauen getankt, Borussia wiederum bislang keins aufgebaut & die Flaute in der Offensive hält an. Der 3. Spieltag endet am Sonntagabend mit einem trostlosen 0:0.“
Claus-Dieter Mayer: „Die gute Nachricht: Borussia schießt in Person von Robin Hack endlich das erste Saisontor. Die schlechte Nachricht: Leider verliert man in einem zerfahrenen Spiel letztendlich trotzdem mit 1:2 und sieht sich mit dem bösen Wort „Fehlstart“ konfrontiert.“