Frauen-EM: Warum Englands Fußballerinnen jetzt auf ihre Anti-Rassismus-Geste verzichten
Der englische Fußball hat bei der Frauen-EM seinen nächsten Rassismus-Eklat. Und ausgerechnet jetzt schafft die Nationalmannschaft ein bekanntes Symbol gegen Rassismus ab.
Wenn es um Titel im Fußball geht, müssen es in England die Frauen richten. Während die Durststrecke der Männer bei großen Turnieren seit dem WM-Titel 1966 anhält, sind die "Lionesses" 2022 Europameister geworden. Am Sonntag (18 Uhr) können sie den Titel im Finale gegen Spanien verteidigen. Doch die Euphorie bekommt einen erheblichen Dämpfer.
Denn der englische Fußball – das haben Männer und Frauen wiederum gemeinsam – leidet an einem Rassismusproblem. Während der EM in der Schweiz richteten sich die Angriffe im Netz gegen die schwarze Spielerin Jess Carter. Die Verteidigerin vom US-Club Gotham FC, verlobt mit der deutschen Torhüterin Ann-Katrin Berger, hat die Anfeindungen vor dem Halbfinale gegen Italien öffentlich gemacht.
Trainerin Sarina Wiegman und ihre Mitspielerinnen solidarisierten sich öffentlich mit Carter. Und sie wählten eine Reaktion, die auf den ersten Blick wenig einleuchtend wirkt: Das Team verzichtete auf seine bekannte Geste gegen Rassismus.
Englische Spielerinnen gehen bei der Frauen-EM nicht mehr auf die Knie
Seit Jahren knien die Fußballerinnen vor jedem Spiel kurz nieder – ein Zeichen, das sich im Sport etabliert hat. Auch bei der EM kam es zum Kniefall, teilweise beteiligten sich auch die Gegnerinnen. Gegen Italien blieben die Engländerinnen zum ersten Mal seit Langem stehen.
"Bis jetzt sind wir vor unseren Spielen auf die Knie gegangen", teilte die Mannschaft mit. "Es ist klar, dass wir und der Fußball andere Wege finden müssen, um Rassismus zu bekämpfen." Georgia Stanway vom FC Bayern erklärte, die Geste habe sich abgenutzt und "nicht den Erfolg gebracht, den wir uns davon erhofft haben". Es müsse etwas anderes passieren. Mit der Entscheidung, sie nun nicht mehr einzusetzen, wolle das Team Diskussionen anregen.
Auch im Finale werden die Fußballerinnen nicht niederknien. Stattdessen stellen sich die Spielerinnen Arm in Arm an die Seitenlinie. Auch ein Zeichen des Zusammenhalts – so öffentlichkeitswirksam wie der gemeinsame Kniefall wirkt es aber nicht.
Kniefall gegen Rassismus – mehr als eine leere Geste?
Den Kniefall als Geste gegen Rassismus hat der US-Footballer Colin Kaepernick etabliert. Schnell fanden sich Nachahmer in der NFL, die Aktion wurde zum Politikum und nach heißen Diskussionen schließlich verboten. Da hatte es sich längst aber schon in anderen Sportarten und Teilen der Welt eingebürgert, dass Sportler vor ihren Spielen auf ein Knie niedersinken, um ein stummes Zeichen gegen Rassismus zu setzen.
Doch oft wird eine starke Geste, inflationär eingesetzt, schnell zum leeren Symbol. In der englischen Premier League der Männer wurde jahrelang Woche für Woche gekniet, bis die Teams 2022 beschlossen, dies nur noch zu besonderen Anlässen zu tun. Jetzt muss auch die englische Frauennationalmannschaft einsehen, dass das Zeichen an Kraft verloren hat – und auch nicht so viel bewirkt hat wie gehofft.
In England gehen die Ansichten über die Abschaffung des Kniefalls auseinander. Der Verzicht sei "ein Geschenk für Rassisten", schrieb ein Kommentator der Tageszeitung "The Guardian". Laut einer aktuellen Umfrage wünscht sich mehr als die Hälfte der erwachsenen Fußballfans in England, die Spielerinnen mögen weiter auf die Knie gehen. Bei den Fans mit Migrationshintergrund sind es sogar 79 Prozent.
Allerdings war der Kniefall auch immer umstritten, sowohl bei Aktivisten als auch in der Politik. Die Geste sei lediglich ein Symbol ohne echte Konsequenzen, kritisieren einige Vertreter der schwarzen Community. Die frühere britische Innenministerin Priti Patel sprach vor einigen Jahren von "Gestenpolitik". Fans hätten das Recht, Spieler dafür auszubuhen.
Kampf gegen Rassismus geht weiter
Was für weiße Akteure in der Regel eine theoretische Diskussion bleibt, hat für Spielerinnen wie Jess Carter handfeste Folgen. "Seit Beginn des Turniers habe ich viele rassistische Anfeindungen erlebt", erklärte die 27-Jährige. "Auch wenn ich überzeugt bin, dass jeder Fan das Recht auf eine Meinung zu Leistung und Ergebnis hat, halte ich es nicht für richtig oder akzeptabel, jemanden wegen seines Aussehens oder seiner Herkunft ins Visier zu nehmen." Anschließend zog sich Carter aus den sozialen Medien zurück.
Für ihre Mitspielerinnen und den englischen Fußball bedeutet das die bittere Erkenntnis: Der Kampf gegen Rassismus ist noch lange nicht vorbei – und wahrscheinlich werden Gesten nicht ausreichen.
Quellen: Lionesses auf Instagram, "Guardian", Yougov, BBC