Letzte Chance in Kiel: Wie lange geht die Saison noch?
Vorsicht, liebe Leserinnen und Leser, dieser Vorbericht könnte die allerletzten Spuren von zarten Europapokalträumen enthalten. Damit es so weit nicht kommt und die tägliche Tabellenrechner-Spielerei auch über das kommende Wochenende hinaus noch einen Sinn hat, muss Borussia Mönchengladbach am Samstagnachmittag bei Tabellenschlusslicht Holstein Kiel gewinnen.
Die Vorzeichen für den siebten Auswärtssieg der Saison – dann hätte Borussia genauso viele Auswärts- wie Heimspiele gewonnen – stehen indes gar nicht so schlecht, wie man angesichts des stark negativen Trends der letzten drei Spiele denken mag: Trainer Gerardo Seoane überraschte am Donnerstagnachmittag mit der Aussage, dass bis auf die Langzeitverletzten (Moritz Nicolas, Philipp Sander, Nathan Ngoumou, Yvandro Borges Sanches, Nikolas Swider) alle Akteure fit sind.
Das heißt, es gibt eine gute Chance, dass die etwa 1500 bis 2000 Gästefans im Holstein-Stadion in den Genuss einer besser funktionierenden Offensivabteilung kommen werden: Robin Hack dürfte nach seinem Kurzeinsatz in Dortmund wieder für Kevin Stöger in die Startelf rücken. Franck Honorat kann sich angesichts der Seaone-Aussage offensichtlich Hoffnungen machen, von der Tribüne direkt in die Startelf zu rotieren. Rocco Reitz scheint die kraftraubenden letzten Wochen nach langer Verletzung ebenfalls einigermaßen gut weggesteckt zu haben und dürfte damit wieder an der Seite von Julian Weigl auf der Doppelsechs auflaufen.
Für Borussia spricht auch die Tatsache, dass es gegen den Tabellenletzten geht. Klar, Holstein Kiel ist nicht zu unterschätzen, hat trotz schmaler 19 Punkte aus 30 Spielen auch schon Achtungserfolge eingefahren (2:2 in Leverkusen, 5:1 gegen Augsburg, 4:2 gegen Dortmund) und erst am vergangenen Samstag beim 1:1 in Leipzig an einem Sensationssieg geschnuppert. Doch immer dann, wenn sich die Störche mühsam an die Heidenheimer und Bochumer Konkurrenz rangerobbt haben, kam der Rückschlag: 1:3-Niederlage im Kellerduell gegen Hoffenheim (vier Tage nach dem Sieg gegen Dortmund), ein enttäuschendes 2:2 zuhause gegen Bochum (nach fast historischer Aufholjagd beim 3:4 in München), der negative Doppelschlag in den Spielen gegen Stuttgart (Ausgleich in Überzahl kassiert) und in Heidenheim (Niederlage im Kellergipfel), die Last-Minute-Pleite im letzten Heimspiel gegen Mitaufsteiger St. Pauli.
Das spricht nicht für die größte Druckresistenz auf Seiten der Kieler. Bislang wirkt es so, als würde die Elf von Erfolgscoach Marcel Rapp immer dann gut spielen, wenn sie schon abgeschrieben wird. Aus Borussia-Sicht ist zu hoffen, dass sich dieser Trend fortsetzt. Denn abgeschrieben ist Kiel nach den Entwicklungen des letzten Spieltags vor der Partie am Samstag zum Glück nicht. Im Gegenteil. Verliert Heidenheim am Freitag in Stuttgart, kann Holstein mit einem Sieg gegen die Borussia mindestens für eine Nacht auf den Relegationsplatz springen.
Mit derlei Tabellenplätzen muss sich die Fohlenelf zum Glück nicht beschäftigen. Anders als in der Vorsaison kann der Tabellenrechner in dieser Saison aus Gründen der Hoffnung anstatt aus Panik und Angst malträtiert werden.
Richtig ist jedoch auch, dass noch vor drei Wochen niemand einen Gedanken daran verschwendet hätte, dass es sich beim ersten Gladbacher Auswärtsspiel in Schleswig-Holstein bereits um das erste Endspiel im Europa-Rennen handeln könnte. Verlieren verboten? Am Samstag gilt dieses Mantra zu 100 Prozent. Nach nur einem mickrigen Punkt gegen St. Pauli (1:1), Freiburg (1:2) und Dortmund (2:3) ist Borussia Mönchengladbach inzwischen sogar hinter Werder Bremen zurückgefallen und hat es immer noch nicht geschafft, endlich an den schwächelnden Mainzer vorbeizuziehen. In drei Wochen sind Tim Kleindienst, Julian Weigl, Nico Elvedi & Co. von Platz 5 auf 9 abgerutscht. Was für eine Talfahrt!
Damit die zarten Europa-Hoffnungen nochmal aufkeimen, braucht es nach menschlichem Ermessen mindestens neun, eher zehn Punkte aus den letzten vier Spielen. Dann könnte es am Ende doch noch für Platz 6 und die Conference League reichen. Dass ein derartiger Endspurt nicht sofort ins Reich der Fabeln verwiesen werden muss, liegt indes nicht an der Gladbacher Form, sondern an dem – in der mausgrauen Theorie – dankbaren Restprogramm. Nach dem Gastspiel an der Förde trifft Borussia kommende Woche auf Hoffenheim, reist im Anschluss zum Thomas-Müller-Bundesliga-Abschiedsheimspiel nach München und empfängt zum Abschluss den VfL Wolfsburg.
Das Kiel-Spiel entscheidet darüber, ob es an den letzten drei Spieltagen nur noch um die goldene Ananas geht. Ja, auch die Fernsehgeldtabelle ist für die finanzielle Situation des Vereins nicht unwichtig. Ja, es geht auch im Falle eines Desasters im Norden dann noch um das anvisierte Saisonziel Einstelligkeit. Die Realität ist jedoch, dass die Saison ihr emotionales Ende finden wird, sobald die Europa-Hoffnungen verflogen sind und der Tabellenrechner in der Mottenkiste verschwindet. Borussia täte gut daran, in Kiel ein anderes Gesicht als zuletzt an den Tag zu legen, das schwierige Gastspiel an der Ostsee zu gewinnen und damit die Saison um mindestens eine Woche zu verlängern.
Kiel: Dähne – Becker, Johansson (Zec), Ivezic – Rosenboom, Gigovic, Remberg, Tolkin – Bernhardsson, Skrzybski, Machino
Borussia: Omlin – Scally, Itakura, Elvedi, Ullrich (Netz) – Reitz, Weigl – Honorat, Plea, Hack – Kleindienst
SEITENWAHL-TIPPS
Christian Spoo: "Borussia spielt nicht überzeugend, aber letzten Endes erfolgreich und schlägt den wahrscheinlichen Absteiger mit 1:0."
Michael Heinen: "Borussia wahrt durch einen 2:1-Sieg die Chance auf Europa."
Claus-Dieter Mayer: "Totgesagte leben länger: Mit einem 3:1 Sieg springt Holstein Kiel zum ersten Mal seit dem 2. Spieltag wieder auf den Relegationsplatz."
Mike Lukanz: "Borussia muss gewinnen. Tut sie aber nicht. Kiel greift nach dem letzten Strohhalm und wird uns mächtig auf die Nerven (und Knochen) gehen. Das 1:1 wird die Europapokal-Träume endgültig begraben."
Kevin Schulte: "Gegen die personell dezimierte Kieler Abwehr beendet Kleindienst seine Durststrecke. Borussia spielt nicht überragend, gewinnt aber letztlich souverän mit 2:0."