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Porträt | Der Rechtsausleger

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Christian Estrosi bedient als Bürgermeister von Nizza eine Rhetorik der Radikalität, die an Marine Le Pen erinnert
Der Rechtsausleger

Er ist derzeit mit Sicherheit einer der Politiker Frankreichs mit dem kapriziösesten beruflichen Vorleben. Der 65-jährige Christian Estrosi, seit 2008 Bürgermeister von Nizza, war in den 1970er Jahren Profitmotorradfahrer, gewann nach 1975 viermal nacheinander die „Tour de France moto“ und nahm an Weltmeisterschaften teil. Diese Karriere verschaffte ihm dank Fernsehen und Sportpresse einen hohen Bekanntheitsgrad. Dass Estrosi heute jede und jeder in Frankreich kennt, liegt freilich weniger an einstigen Sporterfolgen als an seiner rabiat rechten Rhetorik. Er gehört zu jenen Politikern des bürgerlich-konservativen Lagers, deren Distanz zum Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen (früher: Front National) kaum noch wahrzunehmen ist, obwohl er die Rechtsnationalisten auf kommunaler Ebene bekämpft und als Bündnispartner ablehnt.

So hätte es an ein Wunder gegrenzt, wäre Estrosi nach dem jüngsten Attentat vom 29. Oktober 2020 in einer Kirche von Nizza nicht mit markigen Sätzen in Erscheinung getreten. Er verlangte einen „Kurswechsel“. Wie Innenminister Gerard Darmanin sprach er vom „Islamo-Faschismus“ als einem „Virus“, das auszurotten sei, und verlangte „Verfassungsänderungen“, die – kämen sie zustande – auf nichts Geringeres als eine Abschaffung des Rechtsstaats hinausliefen. Seine Maxime: „Kein Recht für die Feinde des Rechts! Über allen Rechten steht das Recht auf Sicherheit.“

Auf der Jagd nach parteipolitischen Funktionen (nicht weniger als zwölf bisher) und Wahlmandaten (zwei Dutzend in 27 Jahren) ließ sich Estrosi von kaum jemandem übertreffen. Und dabei sind die hohen Posten in der Exekutive noch nicht einmal mitgezählt. Estrosi war drei Jahre lang stellvertretender Minister, was so viel heißt wie Staatssekretär. Er diente den Regierungen von Dominique de Villepin und François Fillon wie dem Innenminister Nicolas Sarkozy.

Estrosis Laufbahn begann 1983 als Gemeinderat, es folgte das Amt eines Generalrats im Département Alpes-Maritimes, schließlich wurde er Regionalrat in der Region Provence-Alpes-CÔtes d’Azur. Bei den Kommunalwahlen 2008 wurde Estrosi erstmals zum Stadtoberhaupt von Nizza gewählt und sechs Jahre später im Amt bestätigt. Während seiner Karriere geriet er immer dann in Konflikt mit Bestimmungen über Ämterhäufung, wenn die Regeln wieder einmal verschärft wurden. Zugleich erlebte Estrosi alle Häutungen der maßgeblichen bürgerlich-konservativen Partei Frankreichs, als aus dem gaullistischen Rassemblement pour la République (RPR) zunächst die Union pour un Mouvement Populaire (UMP) wurde, die 2015 wiederum zu Les Républicains (LR) mutierte. 2017 wechselte Estrosi zur Bewegung La République en Marche (LREM) des späteren Präsidenten Emmanuel Macron. In all diesen Gruppierungen zählte er zum Kreis der Autoritär-Konservativen, die innerer Sicherheit und Einwanderungsfragen Priorität einräumen.

Estrosi war mit seiner über drei Jahrzehnte währenden Karriere nie in einen größeren Skandal verwickelt, hatte aber die ganze Zeit hindurch wegen kleinerer Vergehen mit der Justiz zu tun. Mehrmals wurde er zu Geldstrafen verurteilt. Einmal wegen übler Nachrede und Beleidigung, weil er Beschäftigten im Nationalpark Mercantour in Südfrankreich nachsagte, sie hätten es absichtlich zugelassen, dass sich dort Wölfe aus Italien ansiedeln konnten. Zuletzt kassierte er im Oktober 2019 eine Geldstrafe von 2.000 Euro, weil er einen Abgeordneten des ultrarechten Rassemblement National (RN) als „Goebbels-Erben“ bezeichnet hatte. Viel Aufsehen erregte Estrosi 2013 mit der Einführung eines „intelligenten Parksystems“ in Nizza für gut zehn Millionen Euro. Dabei waren Bestechung und Unregelmäßigkeiten im Spiel, was aber dem Verursacher nicht schadete, obwohl das „intelligente System“ nie funktionierte und drei Jahre später stillschweigend beseitigt wurde.

Wie weit Estrosis Annäherung an Marine Le Pens Rechtsradikale gehen kann, zeigte sich nach den Terroranschlägen vom 13. November 2015, als in zwei Pariser Arrondissements 130 Menschen ums Leben kamen. Estrosi forderte tags darauf „außergewöhnliche Maßnahmen“ nach dem Muster des „Patriot Act“ in den USA, der nach 9/11 zum Tragen kam. Man müsse jetzt „die Einschränkung gewisser Freiheiten akzeptieren“. Nach dem Attentat am 14. Juli 2016 in Nizza, als ein Terrorist einen Lastwagen in eine Menschenmenge steuerte und 86 Menschen tötete, beschuldigte Estrosi die „Sozialisten in Paris“, sie hätten verhindert, dass landesweit genug Überwachungskameras installiert worden seien, um solche Anschläge unmöglich zu machen. Die Untersuchung der Tat ergab, dass der Attentäter nicht weniger als elfmal gefilmt wurde, bevor er mit dem Truck in die Menschen fuhr.

Estrosis Nähe zum Front National belegte ebenso seine Warnung von 2008, dass eine „Invasion“ von Ausländern bevorstehe. Er verlangte deshalb die Abschaffung der „automatischen Anwendung“ des „droit du sol“, des Rechts auf Staatsbürgerschaft nach dem Geburtsort, unabhängig von der Herkunft der Eltern. Zugleich sollte es die Möglichkeit geben, Bürgern mit doppelter Staatsangehörigkeit die französische abzuerkennen. Beide Forderungen zählen seit Jahren zum Standardrepertoire des Front bzw. Rassemblement National.

2014 nahm Estrosi an einer Erinnerungsfeier teil, mit der die toten Mitglieder einer terroristischen „Geheimarmee“ aus den frühen 1960er Jahren, der Organisation de l’Armée Secrète (OAS), geehrt wurden. Gedacht wurde dabei auch Jean Bastien-Thirys, des zum Tode verurteilten Oberstleutnants und Chefs des Kommandos, das am 22. August 1962 in Petit-Clamart bei Paris General de Gaulle töten wollte. Der Anschlag scheiterte.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.

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