Wenn die Nerven Achterbahn fahren: Gehirnerschütterungen beim Mountainbiken
Gehirnerschütterungen sind im Mountainbikesport längst keine Bagatellverletzung mehr. Während Knochenbrüche und Bänderrisse die Schlagzeilen bestimmen, wird ein „Schlag auf den Kopf“ oft unterschätzt. Heute zeigt sich jedoch, dass Athleten wie Tahnee Seagrave, Myriam Nicole oder der Enduro-Racer Dan Booker ihre Karrieren zeitweise pausieren, weil die Folgen (aus Erfahrung) weit gravierender sein können als gedacht.
Slopestyle-Athletin Kathi Kuypers hat sich die letzten 3 Jahre während ihres Osteopathie Studiums mit dem Thema Gehirnerschütterungen und deren Symptome und Therapie beschäftigt und berichtet aus ihrer Sicht, wie Crankworx und die Athleten damit umgehen. Sie hat selbst den Test für Gehirnerschütterungen mitgemacht und gibt einen detaillierten Einblick, wie komplex die Bewertung ist. Für Athleten kann ein solcher Test wertvolle Hinweise liefern – doch er macht auch deutlich, wie schwer es ist, die eigene Fahrtüchtigkeit nach einem Crash objektiv einzuschätzen.
Concussion-Tests im Slopestyle
Bis vor 2 Jahren gab es im Slopestyle-Diamond-Level einen Orthopäden, der standardisierte „Concussion Tests“ durchführte. Er überprüfte Athleten vor den Wettkämpfen und hatte die Befugnis, im Ernstfall Athleten aus dem Wettbewerb zu nehmen. Diese Instanz existiert mittlerweile nicht mehr. Damit drängt sich die Frage auf, ob hier an der richtigen Stelle gespart wurde.
Als Ersatz können Athleten freiwillig nun auf das Forschungszentrum für die Prävention von Sportverletzungen und deren Labor für Gehirnerschütterungen und zerebrovaskuläre (das Gehirn und seine Blutgefäße betreuend) Forschung aus Calgary ausschließlich während Crankworx Whistler zurückgreifen. Die Verantwortung liegt dabei jedoch in erster Linie bei den Fahrer*innen selbst. Sie müssen nach einem Crash selbst entscheiden, ob sie fähig sind, wieder an den Start zu gehen. Doch ob eine Athletin oder ein Athlet, noch voller Adrenalin und im Wettkampfdruck, mit Sponsoren im Nacken, Erwartungen zu erfüllen und wichtige Welttournee Punkte zu sammeln, wirklich objektiv einschätzen kann, wie schwer die Verletzung ist – das bleibt fraglich.
Was ist eine Gehirnerschütterung?
Das Nervensystem besteht aus Gehirn, Rückenmark, Nerven und Sinnesrezeptoren und bildet ein riesiges Netzwerk aus Milliarden Nervenzellen. Das Gehirn alleine enthält etwa 100 Milliarden Neuronen, die Informationen blitzschnell verarbeiten. Nervenbündel leiten Signale zu Muskeln und Organen, ein perfekt organisiertes System, das jede Bewegung und Reaktion steuert.
Bei einer Gehirnerschütterung entsteht ein Schlag oder Ruck auf den Kopf. Dabei werden die Nervenzellen und das Gehirngewebe durch lineare oder Rotationskräfte beeinflusst, was die Kommunikation im Nervensystem vorübergehend stört. Die Folgen können sein: Kopfschmerzen, Schwindel, verzögerte Reaktionen, Konzentrationsprobleme oder Gleichgewichtsstörungen. Auch wenn äußerlich oft nichts zu sehen ist, arbeitet das Gehirn in dieser Zeit nicht normal und die Leistungsfähigkeit ist körperlich wie mental eingeschränkt.
Warum sind Mountainbiker besonders gefährdet?
Hohe Geschwindigkeiten, anspruchsvolle Strecken und Sprünge gehören zu einer guten MTB-Ausfahrt dazu. Bei Stürzen sind Kopfaufpralle keine Seltenheit. Besonders gefährlich ist die Kombination mehrerer Stürze innerhalb weniger Wochen. Wer nach einer Gehirnerschütterung zu früh wieder auf das Rad steigt, riskiert das sogenannte „Second Impact Syndrome“, bei dem die Verletzungen deutlich schwerer verlaufen und bleibende Schäden verursachen können.
Bei einem Sturz wirken enorme Kräfte auf den Kopf. Diese Kräfte lassen sich in lineare Beschleunigung (gerader Aufprall) und rotatorische Beschleunigung (Drehbewegung) unterteilen. Letztere spielt bei Gehirnerschütterungen eine entscheidende Rolle.
Mehr über das Gehirn selbst
Das Gehirn ist nicht starr im Schädel fixiert, sondern von Hirnflüssigkeit (Liquor) umgeben und liegt wie ein weiches Gel im Schädel. Wenn der Kopf plötzlich abbremst oder sich abrupt dreht, „schwimmt“ das Gehirn in dieser Flüssigkeit nach – ähnlich wie die Schneeflocken in einer Schneekugel, die nach einer Drehung weiterwirbeln, obwohl das Glas schon stillsteht.
Allerdings bewegen sich im Gehirn nicht einfach Teilchen lose hin und her, vielmehr passiert folgendes:
- Trägheit des Gehirns: Durch die plötzliche Rotation bewegt sich das Gehirngewebe im Schädel noch weiter, während der Schädel selbst schon abgebremst ist.
- Scherkräfte: Dabei kommt es zu mikroskopischen Dehnungen im empfindlichen Nervengewebe, weil verschiedene Teile des Gehirns unterschiedlich stark beschleunigt werden. Vor allem die langen Nervenfasern sind davon betroffen.
- Verletzungsmuster: Diese Scherkräfte können die Signalübertragung in den Nervenzellen stören – genau das äußert sich dann als Gehirnerschütterung. Bei stärkeren Aufprallen können sogar Mikroverletzungen oder Blutungen entstehen.
Schutzsysteme im Helm: MIPS, KinetiCore, SPIN, Wavecel, Leatt Turbine, LDL von Kali, Gel Motion oder Koroyd
Stell dir das Gehirn wie einen Pudding in einer Schüssel vor. Wenn du die Schüssel ruckartig drehst, schwappt der Pudding nach, reißt an manchen Stellen leicht ein und bekommt Spannungen. Genau diese Kräfte wollen Systeme wie Mips und Co. abmildern, indem sie eine Gleitbewegung zwischen Helm und Kopf zulassen und so einen Teil der Rotationsenergie aufnehmen.
Virginia Tech Helm Test
Virginia Tech nutzt ein Testverfahren, bei dem Helme in mehreren Schlagtests geprüft werden. Es werden sowohl lineare Beschleunigungen als auch rotatorische Geschwindigkeiten gemessen, da beide zu Gehirnerschütterungen beitragen können, wobei Rotationsbeschleunigungen Scherkräfte im Gehirn erzeugen, welche besonders gefährlich sind.
Allerdings bedeutet es nicht, dass, wenn ein Helm ein System wie MIPS oder anderes beinhaltet, dieser automatisch gut abschneidet. Es kommt stark auf die Gesamtgestaltung an, wie das System integriert wird, das Gewicht, die Polsterung und die Belüftung. Manchmal führt die Integration eines Rotationssystems auch zu Kompromissen, die sich negativ auf lineare oder andere Testbereiche auswirken können.
Prominente Beispiele aus dem Sport
Mehrere Top-Athleten haben in den vergangenen Jahren öffentlich über ihre Erfahrungen gesprochen. Tahnée Seagrave pausierte lange nach einer Gehirnerschütterung, da ihre Symptome nahezu einen anderen Menschen aus ihr gemacht haben.
2015 stürzte Lorraine Truong bei einem EWS-Rennen in Samoens und erlitt ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, nachdem sich mehrere, zunächst harmlos wirkende Kopfverletzungen aufaddiert hatten. Diese Ereignisse veränderten ihr Leben radikal: Sie fand sich im Rollstuhl wieder, ihre Unabhängigkeit und ein Teil ihrer Identität gingen verloren. Tragischerweise verstarb Lorraine im Juni 25 mit nur 35 Jahren.
Truong beschrieb den Schutz eines Helmes mit eigenen Worten: „Machen wir ein kleines Experiment: Selbst wenn die Keksdose nachdem ich sie heruntergeschmissen habe, unversehrt bleibt, hört man, wie der Inhalt gegen die Wände der Dose prallt. Man sollte niemals davon ausgehen, dass das Gehirn geschützt ist, nur weil man einen Helm trägt.“
Dieses Bild beschreibt die Grenzen von Schutzmaßnahmen und das Thema Gehirnerschütterung recht anschaulich.
Die unterschätzte Gefahr
Während ein gebrochener Knochen meist nach einigen Wochen verheilt, ist eine Gehirnerschütterung, die noch wenig erforscht ist, unberechenbar. Manche Betroffene sind nach wenigen Tagen beschwerdefrei, andere leiden monatelang unter dem sogenannten „Post-Concussion-Syndrom“. Anhaltende Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen, Depressionen oder Schlafprobleme können die Folge sein. Studien zeigen auch, dass wiederholte Erschütterungen das Risiko für neurodegenerative Erkrankungen erhöhen können.
Studien aus der NFL zeigen, dass im American Football, wo die Spieler oft Schläge auf den Kopf einstecken, ein deutlich erhöhtes Risiko für chronische traumatische Enzephalopathie (CTE ist eine langfristige, schleichende Folge von Kopfverletzungen, die das Denken, Fühlen und Verhalten stark beeinflussen) und andere neurodegenerative Erkrankungen wie Demenz oder Parkinson – ähnliche Symptome haben. Auch wenn die Sportarten unterschiedlich sind, gilt die gleiche Botschaft. Die unterschätzte Verletzung entpuppt sich damit als eine der gefährlichsten im Sport.
Der Test
Seit 2024 reist ein Forschungsteam aus Calgary zusammen mit Matt und Neil mit einem umgebauten Wohnmobil zu Sportevents, von Rugby und American Football bis zu Mountainbike-Events wie Crankworx. Das Ziel: Daten sammeln, um Gehirnerschütterungen besser zu verstehen, Athleten vor einem Event im „gesunden“ Zustand zu testen und im Falle eines Crashes datenbasierte Aussagen zu treffen über eine Beeinflussung der Leistung des Gehirns durch eine Gehirnerschütterung.
Athleten, die bereit sind, Daten zu sammeln, setzen ein Elektrodennetz auf, das wie ein EKG funktioniert. Dann beginnt der Test: Wortpaare werden vorgelesen – Strand und Sand, Schrank und Butter – und der Kopf muss blitzschnell erkennen, welche Paare zusammenpassen. Gleichzeitig hören die Teilnehmer verschiedene Pieptöne. Alles, was sie tun müssen, ist, die Veränderung der Töne zu registrieren – keine Antworten, nur Wahrnehmen.
Neil misst dabei, wie schnell das Gehirn diese Reize verarbeitet. Die Impedanzwerte der Elektroden geben an, wie gut das Gehirn „verstanden“ wird, und je niedriger die Werte (idealerweise unter 25), desto sauberer die Daten.
Für Mountainbiker bedeutet das: Die Forschung liefert direkte Einblicke, wie der Kopf auf Stürze reagiert, wie Gehirnströme beeinflusst werden und welche Schutzmaßnahmen wirklich wirken. Dieses mobile Labor bringt die Wissenschaft dorthin, wo Action passiert.
Moderne Messsysteme wie EEG-Netze und instrumentierter Zahnschutz zeigen, wie das Gehirn auf Stürze reagiert und wo Rotations- oder Aufprallkräfte Stress erzeugen. Für Mountainbiker bedeutet das: Risiken besser einschätzen, Helme gezielter entwickeln und die eigene Sicherheit auf Trails erhöhen.
Habt ihr ebenfalls Erfahrungen mit Gehirnerschütterungen gemacht?

