»Hundert Jahre Betriebsamkeit«: Wie ein Traditionsverein im Boxsport-Verband NRW zur stillen Größe wurde
»Guck mal hier, kurz nach dem Kriege, wie da trainiert wurde, das ist schon interessant. Das ist der Josef Kühl, deutscher Meister bei den Profis. Und Hans Schiffers, der war auch Profi, das ist so um 1937… Und da bin ich, in der Staffel…«
Karl-Heinz Hahn ist kaum zu stoppen, wenn er zu Hause in Wickrath, einem Stadtbezirk im Westen von Mönchengladbach, in diesem freigeräumten Zimmer steht. Auf den vielen, zu einem Viereck zusammengestellten Tischen ist mit Plakaten und Programmheften, Fotos und Zeitungsausschnitten fast die gesamte Geschichte der Faustkämpfer Mönchengladbach 1925 e.V. ausgebreitet. Sowie sein eigenes Leben, das sich zu einem beträchtlichen Teil darin abgespielt hat, beziehungsweise weiter abspielt. Er ist inzwischen erster Vorsitzender, seit 42 Jahren, und wird nachher selbstverständlich wieder »in der Halle« im Stadtteil Waldhausen vorbeischauen, wo an vier Nachmittagen trainiert wird – erst die Schüler und Jugendlichen, dann die Senioren.
Außenstehende könnten das für den Grundstock eines Privatmuseums halten: Prall gefüllt mit Gruppenbildern wackerer Aktiver und betont seriös gekleideter Herren. Doch der robuste 78-jährige möchte das Material, das er hier sichtet, alsbald öffentlich machen. Zum Sommer wollen er und seine Mitstreiter den hundertsten Jahrestag ihres Vereins mit einem Einladungsturnier begehen. Bis dahin muss die dazugehörige Festschrift gedruckt sein. Das ist auch im Sinne der vielen Ehemaligen, die zu dem Anlass eingeladen werden sollen. Für Hahn gehören sie doch weiter »zur Familie«, wie er betont: »Das ist ja das Schöne, wenn man so Kontakt hält.«
Die runde Zahl ist zwar noch kein Rekord, solange im DBV auch Vereine wie SC Colonia 06 Köln oder der Hamburger Boxclub Heros von 1922 organisiert sind. Gleichwohl setzt so viel Kontinuität weit über den Niederrheinischen Boxsport Bezirks-Verband (NBBV) hinaus eine besondere Marke. Außerdem sind hier nicht nur Kühls Josef und Hänschen Schiffers, sondern später noch weitere deutsche Meister entwickelt worden – auch wenn sie eventuell in anderen Trikots als den blau-gelben kämpften. So wie zuletzt Oliver Ginkel, der Ende 2024 in Halle den Titel im Halbschwergewicht fürs Boxzentrums Münster gewann.
Und wo sonst in der Region wären Mädchen oder junge Frauen so vorbehaltlos gefördert worden? Der steile Aufstieg der Ina Menzer vom Zuwandererkind aus Kasachstan zur ersten deutschen Meisterin des DBV im Federgewicht (2003) und späteren Profi-Weltmeisterin war jedenfalls kein Zufall. Ebenso wenig wie der Erfolg von Lisa Kempin, die zwischen 2009 und 2021 drei nationale Titel im Bantamgewicht gewann, bevor sie Landestrainerin wurde. Beide profitierten von versierten Übungsleitern wie Waldemar Altegott und Oleg Ginkel, die aus ihrer Heimat die hohe, russische Boxschule mitbrachten – und bis heute dabei sind.
»Unsere Trainer legen großen Wert auf die richtigen Bewegungsabläufe«, sagt Karl-Heinz Hahn mit einigem Stolz. »Da spielt das Geschlecht keine Rolle.«
Das sind die Werte eines klassischen Ausbildungsvereins, der lieber eigene Talente entwickelt hat, statt sich eine Vorzeige-Staffel zusammenzukaufen – oder später gar von der Bundesliga zu träumen. Dennoch gab es Abende, wo auch in Mönchengladbach die Wände wackelten. Etwa zwischen den Kriegen, als sich über 1000 Zuschauer bei regionalen Turnieren in den Städtischen Saalbau drängten. Oder in den 1960ern, wenn die mit dem Polizeisportverein und dem BC Dülken gebildete Kampfgemeinschaft in der (viertklassigen) Westliga gegen Vereine aus Neuss oder Düsseldorf antrat – Regionalderbys mit einem ganz eigenen Reiz.
Heute kommen immerhin noch 400 Neugierige zusammen, wenn die Faustkämpfer in ›ihrer‹ Halle am Ringerberg, die eigentlich einer Grundschule gehört, einen Kampfabend veranstalten. Drei, vier Mal im Jahr soll schließlich »richtig was los« sein, so Hahn. An aktiven Mitgliedern herrscht ohnehin kein Mangel. Im Gegenteil: Zum Herbst, beim Stand von 250, erging ein vorläufiger Aufnahmestopp. Auch mit Rücksicht auf die acht lizenzierten Trainer, die laut Geschäftsführer Artur Bowkun nicht überfordert werden sollen: »Wir haben ja einen guten Ruf zu verteidigen.«
Einfach seriös und »jradaus« zu sein, wie man hier sagt: Das war die Idee des jüdischen Textilfabrikanten Hirsch, der den Verein 1925 ins Leben rief und finanzierte – bis er 1933 vor den Nazis flüchtete. Der erste Trainer Bobby Streit war mal deutscher Meister im Leichtgewicht, und im Prinzip funktioniert das bis heute so: Immer haben ehemalige Aktive genau dann andere Funktionen übernommen, wenn sie vakant wurden. Wie Karl-Heinz Hahn, der in 59 Jahren Vereinsjahren (und nach 32 Kämpfen) auch Jugendtrainer, Kampfrichter und Schatzmeister war. Oder Bowkun, der hier schon als Schüler trainierte und vor zehn Jahren, nach längerer, beruflich bedingter Abwesenheit, aus Rheinland-Pfalz zurückgekehrt ist.
»Es war für mich nie eine Frage, zu einem anderen Verein in der Gegend zu gehen«, sagt der Mitvierziger. »Und jetzt, wo sich immer weniger Leute für ein Ehrenamt interessieren, kann ich was zurückgeben.« So möchte Bowkun »helfen, die Abläufe im Verein zu vereinfachen und die Arbeit des Vorstands transparenter, plastischer zu machen.« Ohne Digitalisierung und zeitgemäße Öffentlichkeitsarbeit bliebe der Verein nach seiner Überzeugung irgendwann stehen, denn »eine stolze Geschichte allein reicht nicht.«
Zum vorgerückten Nachmittag ist die Halle am Ringerberg tatsächlich mit über dreißig Aktiven gefüllt. Das reicht vom 17-jährigen Hoffnungsträger Nikadim Deminenko bis zu Kai Ebel, Jahrgang 1964. Der echte »Glabbacher« schwitzte hier schon als Volontär, bevor er bei den Boxabenden mit Henry Maske und den Formel1-Rennen seinen eigenen Kult als schriller Live-Reporter für RTL begründete. Und hält so oft er kann weiter Zwiesprache mit dem Sandsack, »weil es einfach ein geiler Sport ist. Außerdem fühle ich mich in diesem Verein zu Hause.«
Einfach nur Boxen also, ohne großes Palaver, aber mit viel Herz und Know-how: Das macht den einen Teil der Mönchengladbacher Erfolgsgeschichte aus. Der andere liegt für Karl-Heinz Hahn in der Kunst, sich bei allem Einsatz nicht zu bedeutend zu fühlen. »Man ist ja der Sache dienlich«, sagt er zum Ende noch, »aber die Sache bin nicht ich, sondern das ist der Verein. Und toi, toi, toi, bisher hat das gut geklappt.«
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