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Zeitgeschichte | 1927: Gott kommt zu spät

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Bertolt Brecht und Kurt Weill führen ihr Songspiel „Mahagonny“ auf. Es geht um eine Stadt, in der man alles dürfen darf: fressen, lieben, boxen, saufen, sterben
1927: Gott kommt zu spät

Es regnet hinein in Straßen, Häuser und Menschen. Der Himmel will der Stadt kein Dach sein. Wer so unbehaust das bessere Leben sucht, mutet sich viel zu. Zu viel womöglich. Der muss lernen, nur bei sich Halt zu finden, denn unter einem unzuverlässigen Himmel ist das Verrecken ein Leichtes. Selbst wenn es damit nur schleppend vorangeht, bleibt es über jeden Zweifel erhaben wie die wässrige Suppe, die man schlürft, als hätte der Teller ein Loch. Wem bei Abortgerüchen der Appetit vergeht, hat schon gegessen oder braucht nichts mehr.

Berlin in den 1920er Jahren, es muss als dummer und verschrobener Gott auf die Erde herabgestiegen sein, wer wie Franz Biberkopf in Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz (1929) ein anständiges Leben führen und den Menschen ein Freund sein will. Woher willst du wissen, dass man nicht auch mit dir fertig wird, Biberkopf? Lerne das ABC des Asphalts, und du kannst buchstabieren, was dir blüht. Unter die Räder kommst du, nicht viel wird von dir übrig sein, wenn du aufstehst und mit deinem Bauchladen herumstehst wie der Leierkastenmann im Hof.

„Manche, ins Wasser gefallen, erreichen spielend das Flussufer. Andere mit Mühe und wieder andere gar nicht. Dem Fluss ist dies gleichgültig“, schreibt Bertolt Brecht 1926 in seinem Lesebuch für Städtebewohner. Zwei Jahre zuvor, im September 1924, ist er endgültig von München nach Berlin umgezogen, das ihm missfällt und nur gefällt, lässt sich die Stadt als Boxring erfahren, in dem Schlaghärte gefragt ist, um über die Runden zu kommen. Mehr als Berlin beschäftigen ihn Chicago und New York, der amerikanische Lebensstil und die Gier, sich zügellosem Genießen hinzugeben.

Brecht richtet sich ein in der Dachwohnung der Schauspielerin Helene Weigel. Berlin-Wilmersdorf, Spichernstraße 16, vier Treppen, eine Stiege himmelwärts, ein wackliges Brett – und man ist da. Das Domizil wird zum Atelier für Brecht, der gern Kollegen um sich hat – Döblin, Ehrenstein, Walter Mehring, Rudolf Leonhard, Walter Hasenclever, Bernhard Reich. Man liest sich Texte vor, probt Szenen und denkt über Zeitschriften nach, die zu gründen wären, fehlte es nicht an Geld, sie zu gründen. Brecht verhält sich, wie es Bewohnern großer Städte gefällt, die er studiert hat, um sich näherzukommen. Wo einer sein Terrain besetzt, ist an Verzicht nicht mehr zu denken. Bald muss die Weigel mit dem gemeinsamen Sohn Stefan weiterziehen, in die Babelsberger Straße, drüben in Schöneberg am Stadtpark. Sich zugetan bleibt man.

Im März 1927 fragt der Komponist Kurt Weill bei Brecht an, ob man nicht dessen Mahagonny-Gesänge aus der Hauspostille als dramaturgisches Gerüst für eine kleine Oper oder ein Songspiel verwenden wolle. Er könne dafür die Musik schreiben und mit dem gemeinsamen Werk bei den Festwochen Neuer Musik in Baden-Baden vorstellig werden.

Entstanden wie eine Fingerübung über das Verderben einer fiktiven Stadt, wird Mahagonny am 27. Juli 1927 in der Regie von Brecht am Festspielort uraufgeführt, wegen der als obszön empfundenen Gesangstexte mit Befremden und Herablassung bedacht. Das Handelsblatt Baden-Baden findet, das Stück gehöre ins mitternächtliche Programm von Großstadtkabaretts und sei dort und nur dort gut aufgehoben. Was aufregt, ist Brechts Freude an einer Parabel, die es mit Lust und Laster nicht gut sein lässt, auch deren Preis Respekt zollt. Die Stadt Mahagonny liegt nun einmal am Strom der Zeit, am Schluss mittendrin, um fortgerissen und zerstört zu werden. Bis es so weit ist, spielt sich alles in einem Boxring ab, der die Kämpfe so zeigt, „wie Sie Kämpfe zu sehen gewohnt sind“, hört das Publikum.

Zunächst rollt ein zerbeulter Buick auf die Bühne und röchelt vor sich hin. Mit dem schrottreifen Gefährt stranden die Witwe Leokadja Begbick und ihr Prokurist Willy in einer öden Gegend irgendwo in Nordamerika. Da man von der Polizei verfolgt wird und nicht mehr zurück kann, hat die Begbick eine Idee. Wir bleiben hier und gründen eine Stadt, die Mahagonny heißen und ihre Netze auswerfen soll. Es gibt dort alles, was das sündige Herz begehrt: Saufen und Fressen, Mädchen und Knaben, Whiskybar und Pokertisch, Boxer und Killer und Götter. Das spricht sich schnell herum, und die Vögel flattern herbei. Man schmeckt in der Luft von Mahagonny die Niedertracht der menschlichen Natur, die einem auf der Zunge zergeht wie ein kulinarischer Genuss. Hier das Leben auskosten, heißt dasselbe riskieren. Alle wissen, woran sie sich zu halten haben als zahlende Gäste der Wonne: „Erstens vergesst nicht, kommt das Fressen, zweitens kommt der Liebesakt, drittens das Boxen nicht vergessen, viertens Saufen laut Kontrakt, vor allem aber achtet scharf, dass man hier alles dürfen darf.“

In den Netzen von Mahagonny verfangen sich – ohne es zu merken, aber das Leben ist verführerisch – Herr Jakob Schmidt, Joseph Lettner (Alaskawolfjoe), Heinrich Merg und ein gewisser Paule Ackermann, der es schätzt, kann er vor dem Schlafengehen Gin mit Pfeffer trinken. Eben noch Holzfäller und schlichte Kreaturen, die lebten, um zu arbeiten, und weiterarbeiteten, um zu überleben, sind die vier auf der Suche nach Vergessen im Rausch. Und sie haben „heute hier unterm Hemde Geldpapier“. Falls ihnen in Mahagonny die Hölle winkt, wie Gerüchte über die Stadt besagen, kann sie das nicht schrecken, „weil wir immer in der Hölle waren“. Das ewige und ewig unsterbliche Geschlecht der Glückssucher ist in Mahagonny wie überall der zu Staub zerfallene Dreck der Zeit. Vom Winde verweht und danach unauffindbar. So gibt sich Herr Jakob Schmidt dem großen Fressen hin, isst ein Kalb und noch ein Kalb, um als Opfer konsequenter Glückseligkeit zu sterben – mit stierem Blick im Fleisch ersoffen. Alaskawolfjoe verfällt kindischem Größenwahn, tritt zum Preisboxen gegen Dreieinigkeitsmoses an, einen Killer aus dem Gefolge der Witwe Begbick, geht schnell auf die Bretter und zugrunde. „Er vertrug nichts Saures“, kreischt das Publikum.

Paule Ackermann, die gemietete Hure Jenny Smith an seiner Seite oder auf dem Schoß, hat beim Boxen auf Joe gesetzt und viel Geld verloren. Trotzdem bestellt er im „Hotel zum Reichen Manne“ eine Runde Whisky und noch eine Runde und noch eine – bis ihm das Geld ausgeht, was das absolut Einzige und wirklich Allerletzte ist, was man nicht dürfen darf in Mahagonny, wo man sonst alles dürfen darf.

Entsprechend kurz der Prozess und klar das Urteil, verlesen von der Witwe Begbick. „Du, Paule Ackermann, bist verurteilt: Wegen indirekten Mordes, weil du beim Preisboxen deinen Freund Joe in den sicheren Tod hetztest, zu zwei Tagen Haft. Weil du Ruhe und Eintracht gestört hast, zu zwei Jahren Ehrverlust. Wegen Verführung eines Mädchens namens Jenny zu vier Jahren Bewährungsfrist. Aber weil du meine drei Flaschen Whisky und ein Glas nicht bezahlt hast – darum wirst du zum Tode verurteilt Paule Ackermann.“

Es findet sich umgehend ein elektrischer Stuhl, um zu vollstrecken, was keinen Aufschub duldet. Schließlich hat die Witwe Begbick dem Verbrecher Ackermann erfüllt, was immer an frommen Wünschen in seinen Augen stand. Auch Jenny will keine Zeit verlieren, schnell noch Paules Witwe sein, dann aber zurück „zu den Mädchen“, weil die Freier nicht warten, sondern wollen.

Doch bettelt der Todgeweihte so laut um sein Leben, dass es einen nach Mahagonny verschlägt, mit dem keiner gerechnet hat: Gott taucht auf und stakst durch den Boxring. Was nur Brecht provoziert haben kann. Er will bei der Suche nach dem Namen für sein Sodom und Gomorrha an das biblische „Magog“ gedacht haben, das Land der Sündhaften. Da muss Gott um seinen Ruf besorgt sein, kommt aber zu spät. Ackermanns Hinrichtung kann die Angst nicht zügeln, ohne Geld nicht mehr alles dürfen zu dürfen. Eine irre Teuerung ist die Folge, jeder kämpft gegen jeden, das „Hotel zum Reichen Mann“ steht in Flammen. Unbehaust und unbelehrbar ziehen die Überlebenden weiter.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.

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