Baseballschlägerjahre | Links war out
Schon nach den ersten Seiten sticht der Untertitel unangenehm im Kopf. Seine Jugend sollte eine in blühenden Landschaften sein, das autobiografische Romandebüt Nullerjahre spielt aber hauptsächlich in eher verwelkten Gegenden, auf stinkenden Feldern, in Bierzelten und inmitten jeder Menge Nazis. Hendrik Bolz, geboren 1988, wuchs in Stralsund auf, kennt also von der realen DDR nur noch die Abziehbilder, die in seiner ostdeutschen Heimat herumtaumelten. Von einer friedlich wiedervereinigten, gesamtdeutschen Jugend ist seine Geschichte aber weit entfernt: „Viel, viel zu lange bestand die Erzählung, dass es in unseren Jahrgängen zwischen Wessis und Ossis ja keine Unterschiede mehr gebe, dass jemand, der 1988 geboren ist, sich unmöglich noch ‚ostdeutsch‘ fühlen könne, einfach nur, weil, genau wie ich, kaum einer offen darüber sprach.“
Schluss damit. Jenes Ostdeutschland, das der Autor hier porträtiert, ist nicht das Ostdeutschland der Wendebeauftragten, der fahnenschwenkenden Einheitsfeiernden, der Bundeskanzler und der Bundeskanzlerin. Es ist ein Osten zwischen Neonazis, postsozialistischer Erziehung und kapitalistischer Verlockung, sprich: zwischen Gewalt und Gewalt und wenig Entkommen.
„Offen darüber gesprochen“ hatte Hendrik Bolz übrigens zuerst im Freitag (41/2019). „Sieg-Heil-Rufe wiegten mich in den Schlaf“ hieß sein ganzseitiger Text über das Großwerden in einem System, das kurzerhand abgesagt und sich selbst überlassen wurde. Der Artikel war ein Aufschlag für eine bundesweite Mediendebatte über bis dato verschwiegene ostdeutsche Realitäten unter dem Stichwort „Baseballschlägerjahre“. Bis dahin war Bolz vor allem unter seinem Künstlernamen Testo als Rapper im Duo Zugezogen Maskulin bekannt – und teilte schon in der Gestalt gegen Einheitstaumelei aus. „Trümmerfrauen tanzen auf den Tischen. Endlich wieder Weltkrieg – Tote, Bier und Titten!“, so bedankte sich „ZM“ für die Einladung zu den Feierlichkeiten am Brandenburger Tor 2019, anlässlich des 30. Jahrestages des Mauerfalls. Nicht nur der anwesenden Kanzlerin dürfte da kurz die Spucke weggeblieben sein.
Nullerjahre wechselt beständig zwischen diesem assoziativen Vulgärstil und der nüchternen Beschreibung. Bolz und sein soziales Umfeld entkommen der kleinstädtischen Öde und ihrer ziellosen Nachwende-Sozialisierung zunächst durch eine düstere Klaviatur an sexistischen, rassistischen und antisemitischen Witzen, später suchen sie Abwechslung und Abenteuer durch Zerstörung, Gewalt, Konsum und Musik. Sie trachten nach Zugehörigkeit, aber da war die Auswahl durchaus begrenzt: „Linkssein war out, war durch die DDR disqualifiziert. Die rechte Subkultur hingegen hatte unter uns ostdeutschen Kindern und Jugendlichen eine totale Normalisierung erfahren.“
Wie ferngesteuert
Das begleitet der Autor mit schonungsloser Lautmalerei und verwandelt damit das Lesen in eine höchst plastische Erfahrung. Er lässt seine Leser in den Kopf eines Jugendlichen schauen, der sich – anders als in der sozialpädagogischen Vorstellung – bei vielem überhaupt nichts denkt, sondern manchmal wie ferngesteuert durch den sozialen Scherbenhaufen manövriert und dem die Gedanken, schlimme wie schöne, wie Blitze durch den Kopf jagen: Da sind die Nazis, da die Mädchen, dort das Bier und drüben der Westen – und alles reizt und nervt abwechselnd. Zwischendurch erweist sich Bolz als fleißiger Materialsammler, er zitiert die (Wahl-)Werbeslogans und Songzeilen der nuller Jahre, von Dune über die Böhsen Onkelz bis hin zu Bushido, von Gerhard Schröder bis Nintendo Game Cube, ganz genau so, wie sie einem Jugendlichen über Radio, Fernsehen und Freunde kontextlos in den Kopf hageln.
Mit allerhand sprachlichen Effekten, die er schon als Rapper hervorragend beherrscht, zeichnet er die bizarre Stimmung jener Zwischenwelt nach, in der die DDR noch nicht ganz tot und die BRD noch nicht ganz lebendig ist.
Zugleich beschreibt Nullerjahre eine irre Normalität, die verblüfft, weil sie so nachvollziehbar bleibt. „Mit ihm auf einer Seite zu stehen, hat sich aber richtig gut angefühlt“, lässt Bolz sein jugendliches Ich über sich selbst denken, kurz nachdem sein Nazifreund gerade grund- und anlasslos einen Mitschüler gedemütigt, verprügelt und beklaut hat. So einfach war das, so einfach ist das. Aber so kann es nur jemand begreiflich machen, der es genau so erlebt hat. Bolz beschönigt nichts, vor allem sich selbst nicht, was die Leseerfahrung ungeheuer nah macht – wenngleich literarisch Sensible zwischen all der Kotze, Pisse und dem Blut wohl öfter mal verschnaufen müssen.
„Man, das war doch gar nichts. Wenn ihr wüsstet, was hier früher in Stralsund abging in den 90ern, da sind unsere Sachen Kinderkacke gegen“, sagt der Schlägerkumpel in den Nullerjahren. Und glücklicherweise können wir das gleich prüfen, denn mit Wir waren wie Brüder widmet sich aktuell noch ein zweiter autobiografischer Roman der Jugend um die Wendezeit. Auch hier war ein Zeitungstext der Keim fürs Buch: Daniel Schulz’ gleichnamiger Essay in der taz vom Oktober 2018 wurde noch im gleichen Jahr mit dem Reporterpreis und ein Jahr später mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Er behandelt nicht die nuller, sondern die 1990er Jahre in Brandenburg, und auch hier wird gesoffen und geprügelt, gefeiert und geträumt. Das Cover zeigt die schwarzen Vierecke, die dem Leser des genannten taz-Artikels schon bekannt vorkommen: „Die Kunst ist, aus dem Hakenkreuz gleich wieder ein kleines Fenster zu machen, bevor einen jemand sieht“, hieß es da.
Bei Schulz schlägt noch keiner die 20-Cent-Münzen breit, auf dass sie in schlecht angepassten Zigarettenautomaten für eine Schachtel taugen, hier wird über weite Teile noch mit D-Mark bezahlt, Kassette gehört und mit dem Traktor gefahren. Die Zeit ist eine andere, die Realitäten aber sind überraschend ähnlich. Bei Bolz sind es die postsozialistischen Erzieherinnen, die den dünneren Mädchen im Kindergarten das Essen hineinprügeln, als hinge davon noch der Sieg der Arbeiterklasse ab; bei Schulz hört man „das Klatschen und Heulen zwischen den Blöcken“, die völlig normale innerfamiliäre Prügelstrafe – und wundert sich dann ein bisschen weniger darüber, dass die so Disziplinierten später zu spontanen Gewaltausbrüchen neigen.
Billigbier und Bum-Bum-Eis
Schulz schildert seine Version des „barbarischen Jahrzehnts“, wie er die Jahre im Osten nach dem Mauerfall in seinem preisgekrönten Artikel nannte. Hier ist der Realsozialismus nicht nur als Versatzstück präsent. Der junge Protagonist intoniert Erich Honecker, kennt den Pioniergruß, weiß, was eine Arbeiterfaust ist, und tagträumt mit seinen Freunden vom Krieg West gegen Ost. Er beobachtet präzise, wie seine Umgebung – die fiktiven brandenburgischen Dörfer wie „Starow“ und „Markheide“ bleiben dabei mit der Realität austauschbar – sich an das neue System anzupassen versucht. Einst stolze Arbeiterväter und -mütter kommen dabei genauso unter die Räder wie diejenigen, die nicht nur für die DDR geackert, sondern auch an sie geglaubt haben. Diese Welt ist von Anfang an zu Ende, will aber nicht vergehen.
Schulz erzählt enorm feinfühlig, er weiß, wie Raufasertapete kribbelt, wenn man zu lange mit den Fingern darübergleitet, und er weiß, wie sich Verliebtsein anfühlt, wenn man noch nicht so genau weiß, was das ist: „Wenn ich die angucke, wird mein Kopf ganz ruhig.“ Solche Details, herrlich klar, liebevoll und unprätentiös aufgeschrieben, machen dieses Buch zu einer Erlebnisreise: Selbst wer diese Welt nicht kennengelernt hat, riecht die verdreckten Tümpel, die Kohle, schmeckt das Billigbier und das Bum-Bum-Eis. Und er kann die Angst und die Taubheit nachspüren, die aus dem Bauch aufsteigt, wenn der Nazi zum Schlag ausholt; das Unbehagen, wenn die Kumpels von früher nach Berlin fahren, zum „Kanackenklatschen“. Kein staatsbürgerliches Entsetzen ereilt da freilich den jungen Erzähler, vielmehr ist er „nicht überrascht, einfach nur leicht gefroren wie Erbsen“. Schulz gibt seinen Lesern keinen Geschichtsunterricht und kein Soziologieseminar mit an die Hand. Und an keiner Stelle ist das nötig. Das individuelle Erleben entfaltet sich allein durch Sprachmagie zur Erzählung einer Generation, die so unmittelbar nachvollziehbar bleibt, dass es schaurig ist.
Hendrik Bolz’ Nullerjahre und Daniel Schulz’ Wir waren wie Brüder sind nicht die Ersten ihrer Art, und doch sind es überfällige Bücher. Sie sind so notwendig, weil diese Nachwendejugend zu oft von außen gedeutet und verklärt oder von innen nur romantisiert oder verteufelt wurde. Ein großes Glück ist, dass diese Erzählungen nicht von irgendwem kommen, sondern von zweien, die etwas erlebt haben, die fühlen, denken und schreiben können, wenngleich mit sehr unterschiedlichem Charme. Die Lebenswelt von Bolz ist laut und doll, ständig knallt, knackt und knirscht es hier ohne Filter, sodass die Szenen nachhallen und wehtun und die beigemischte Sachlichkeit manchmal geradezu erholsam wirkt. Schulz ist behutsamer, macht viel mit wenig, schreibt manchmal eine halbbittere Stille herbei, bei der die Zeit zu trödeln scheint und die Stimmung unter die Haut kriecht. Beiden gemein ist der unbedingte Wille zum Erzählen, ohne den Respekt vor der Realität zu verlieren, ohne die absolute Aufgeklärtheit für sich zu beanspruchen, kurz: ohne sich als die geläuterten Gewinner einer tragischen Geschichte darzustellen, deren Tragik noch lange nicht zu Ende ist.
Info
Nullerjahre. Jugend in blühenden Landschaften Hendrik Bolz Kiepenheuer & Witsch 2022, 336 S., 20 €
Wir waren wie Brüder Daniel Schulz Hanser Berlin 2022, 288 S., 23 €
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