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Nazis | Der Rollladen ging runter

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Wer beim Stichwort „Baseballschlägerjahre“ nur an die 90er Jahre im Osten denkt, übersieht, was in den 80ern im Westen vorging
Der Rollladen ging runter

Alice Weidel ist nur ein paar Kilometer entfernt von mir aufgewachsen. Stephan Reuken, der für die AfD im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern sitzt, besuchte eine Schule, die sich in Spaziergangsnähe zu meiner befand. Beide sind jünger als ich. Sollte ich ihnen in meiner Jugend begegnet sein, habe ich sie nicht bewusst wahrgenommen. Es gibt Städte, die zu Synonymen für Rechtsextremismus geworden sind, Gütersloh gehört nicht dazu.

Begebe ich mich auf die eigene biografische Spurensuche, erinnere ich mich an die Skinheads, die während meiner Grundschulzeit Anfang der 80er plötzlich im Gütersloher Stadtbild auftauchten, auf dem Platz vor dem Hertie-Kaufhaus. Ein Ort, an dem nachmittags die Jugend der Stadt aufeinandertraf, die Gruppen standen fein säuberlich getrennt im Spektrum der Subkulturen: Gothics, Mods, Teds, Punks, Psychobillies und Popper. Ich denke an die Schriftzüge an den Hauswänden, an denen ich auf dem Weg zum Gymnasium vorbeifuhr, Hakenkreuze neben Anarcho-Zeichen, „Nie wieder Faschismus“ und „Ausländer raus“. Und an den Tag, als meine Nachbarin vor der Tür stand, aus der Gothic-Anhängerin war ein Skinhead-Girl geworden. Springerstiefel, Bomberjacke, abrasierte Haare bis auf einen Kranz ums Gesicht. Als 2012 der Film Kriegerin ins Kino kommt, der in einer ostdeutschen Kleinstadt spielt, werde ich das erste Mal seit Langem wieder an sie denken. 1987 bin ich zwölf, sie 15. Unter ihrem Arm eine LP: Gruß an Deutschland von Endstufe. „Doctor Martens, kurze Haare, das ist arisch, keine Frage. Nieder mit dem Mischmasch-Blut, denn das tut dem Vaterland nicht gut“, läuft an diesem Nachmittag auf dem Plattenspieler in meinem Kinderzimmer. Beim Abendessen wechseln meine Eltern besorgte Blicke.

Stützpunkte und Zellen

Ein paar Wochen später feiert die Nachbarstochter ihren 16. Geburtstag, ihre Eltern sind verreist. Der schmale Weg vor dem Reihenhaus steht voll mit Neonaziskins, Bierflaschen knallen, aus dem Haus dröhnt Musik von Screwdriver. Zwischen Störkraft und den Onkelz steht bei der Freundin aus Kinderzeiten keine Kuschelrock-LP. Ein Nachbar ruft „Ruhe bitte!“. Einer der Naziskins brüllt zurück: „Wir kennen deine Adresse.“ In sämtlichen umliegenden Häusern gehen die Rollläden runter.

Kurz danach wird der Tatort „Voll auf Hass“ gesendet. Am 8. November 1987, einen Tag vor dem Jahrestag der Pogrome von 1938, ermitteln die Fernsehkommissare Stoever und Brockmöller in Hamburgs neonazistischem Skinheadmilieu. Bei der Szene, in der eine Nazihorde die Verlobungsfeier im türkischen Restaurant stürmt und auf alles und jeden einprügelt, spüre ich, wie meine Mutter an der pädagogisch gemeinten Idee, mich diesen Film anschauen zu lassen, zweifelt. Die Szene endet damit, dass der türkische Verlobte mit einem Schädelbruch tot auf dem Boden liegt. Im Juni 1993 soll diese Tatort-Folge wiederholt werden. Wenige Tage zuvor sterben beim rechtsextremen Mordanschlag von Solingen fünf türkeistämmige Frauen und Mädchen, 17 Menschen werden verletzt. Die Täter: vier junge Männer aus der Solinger Skinhead-Szene. Die Ausstrahlung von „Voll auf Hass“ wird unterbrochen, wegen zahlreicher Zuschauerproteste.

Vor 1989 sonnte sich ein großer Teil der bundesdeutschen Gesellschaft in dem Gefühl, die Nazis seien eine Randgruppe, die am Ende ein polizeiliches Problem bleibe. Es war der nicht betroffene Teil der Bevölkerung. Die neonazistische Gewalt richtete sich gegen Migranten, Asylsuchende, Obdachlose, Menschen mit Behinderung, Juden und Linke. Heute würden Soziologen daraus vermutlich ablesen, dass sich die derzeitige Polarisierung der Gesellschaft bereits damals abzeichnete.

Experten für Rechtsextremismus hätten beim Stichwort Gütersloh vor allem wohl eine Figur im Kopf: den Gütersloher Meinolf Schönborn. Eine Größe der Neonaziszene, der langjährige Chef der „Nationalistischen Front“, die er 1985 mitgründete. Eine Partei, die weniger Wert auf Wahlen legte, sondern auf die Errichtung von Stützpunkten und Zellen. Als ich jung war, wurde sein Name oft in einem Atemzug mit dem Neonazi Michael Kühnen genannt. Bei den Ermittlungen zum Brandanschlag in Solingen kam ein V-Mann-Skandal zutage, der an den NSU-Komplex erinnert. Die Täter trainierten in einer rechtsextremen Kampfsportschule, dessen Leiter auf Meinolf Schönborn angesetzt war.

Ein Mitglied der Nationalistischen Front verübte 1988 einen rassistisch motivierten Brandanschlag auf ein Haus im pfälzischen Schwandorf. Eine dreiköpfige türkeistämmige Familie und ein Deutscher kamen ums Leben. Dieser Brandanschlag von 1988 hat sich im Unterschied zu Mölln und Solingen nicht ins kulturelle Gedächtnis eingeprägt. Der rechtsextreme Terror der Bundesrepublik begann nicht vor 29 Jahren in Hoyerswerda, sondern vor 40 Jahren in Hamburg. Im August 1980 verübten Mitglieder des von Manfred Roeder gegründeten Terrornetzwerks „Deutsche Aktionsgruppen“ einen Brandanschlag auf ein Wohnheim für vietnamesische Flüchtlinge. Die Täter sprühten „Ausländer raus“ an die Fassade und warfen Molotowcocktails durchs Fenster. Der 22-jährige Nguyen Ngoc Châu und der 18-jährige Đo Anh Lân starben an ihren Verbrennungen. Die Tat gilt als der erste dokumentierte rassistisch motivierte Mordanschlag in der Bundesrepublik nach 1945.

Es waren militante Kader wie Schönborn und Kühnen, die ab Anfang der 80er Jahre den Rechtsterrorismus und den alltäglichen rechten Terror vorantrieben. Bundesweit begaben sich ihre Gefolgsleute in die Fankurven der Fußballstadien, auf Rechtsrockkonzerte und in das Skinheadmilieu, um für den Kampf gegen die Demokratie zu rekrutieren und zu politisieren. Und das gelang ihnen auch, von den Rängen der Stadien grölten immer lauter die „Sieg Heil“-Rufe, Neonaziskins zogen mit Baseballschlägern durch die Innenstädte und machten Jagd auf Migranten. Skinheads seien unpolitisch, eine Radikalisierung habe man nicht bemerkt, lautete häufig die Losung der Polizei.

Im Juli 1985 wurde der 29-jährige Mehmet Kaymakcı Kayma in Hamburg-Lohenfelde von drei Neonazis ermordet, sie zerschlugen eine Gehwegplatte aus Beton auf seinem Kopf. Fünf Monate später jagten Naziskins den 26-jährigen Ramazan Avci im Hamburger Stadtteil Hohenfelde. Er rannte auf die Straße, wurde von einem Auto erfasst und brach sich ein Bein. Auf dem Boden liegend, wurde er mit Baseballschlägern, Axtstielen und Fußtritten malträtiert. Am Schädelbruch, den er dabei erlitt, starb er drei Tage später.

1985 war das Jahr, in dem Bundespräsident Richard von Weizsäcker seine berühmte Rede zum Tag der Befreiung hielt und Bundeskanzler Helmut Kohl mit Ronald Reagan vor Kriegsgräbern auf dem Bitburger Friedhof stand, in denen auch SS-Soldaten lagen. In den Kiefernholzregalen der Republik stand Ganz unten von Günter Wallraff. Die Schülervertretung meines Gymnasiums debattierte, ob vor dem Schulhof ein Schild mit der Aufschrift „Ausländerfreundliche Schule“ aufgestellt werden sollte. Drei Jahre später fuhr ich auf dem Heimweg mit dem Fahrrad durch den Wald, am Himmel über mir donnerte ein Harrier-Kampfjet in Richtung des Militärflughafens der stationierten Briten. Durch das Feld neben mir robbten Männer in Tarnkleidung. Ich erkannte einige Gütersloher Naziskins, sie machten eine der „Wehrsportübungen für das 4. Reich“.

Bloß keine Angst zeigen

Kurz darauf traf ich die Nachbarstochter zum ersten Mal seit ihrem Geburtstag. Ich bin auf dem Weg zu einer Party im Kulturzentrum unserer Stadt. Auf meinen Rucksack habe ich mit Edding das Anarchiezeichen gemalt. Es ist dunkel, ich stolpere mitten in eine Gruppe von Rechtsextremen. Einer zerrt mich an meinem Jackenkragen hoch und hebt mich leicht an. „Du hast auf meinen Fuß getreten.“ Er stößt mich weg, ich knicke um und lande auf dem Boden. Mein Blick fällt auf seine Springerstiefel mit Stahlkappe, seine Freunde umzingeln mich. Meine Nachbarin ruft, die kenne ich, lasst das mal. Ich stehe auf und versuche, in Richtung Kulturzentrum zu gehen, nicht zu rennen. Bloß keine Angst zeigen. Bei der Ankunft stelle ich erleichtert fest, drinnen sind mehr Leute als draußen. Ein paar Tage später kaufe ich mir Doc Martens und Pfefferspray. So wie fast alle meine Schulfreunde. Wir wollen gewappnet sein, die meisten von uns landen früher oder später in antifaschistischen Gruppen. Die Springerstiefel gibt es im Army-Shop, rechte und linke Kundschaft, wechselseitig beobachtet man wachsam den Einkauf, mit oder ohne Stahlkappe? Dem älteren Bruder einer aramäischen Grundschulfreundin wird beim Tanken der Kopf gegen die Zapfsäule gedonnert, am Haus einer türkischen Familie, die drei Straßen von mir entfernt wohnt, steht „Türken raus“. Ein griechischer Freund hat nach einem Angriff an der Bahnunterführung eine Platzwunde über dem linken Auge, dem über die Stadt hinaus bekannten Antifaschisten werden Schrauben am Motorrad gelockert. Es ist die ganz alltägliche neonazistische Gewalt der 80er Jahre, nicht nur in Gütersloh, sondern in zahlreichen westdeutschen Städten und Regionen.

Meinolf Schönborn kauft als Vorsitzender der Nationalistischen Front ein Haus im benachbarten Bielefeld, sein Ziel: ein Schulungszentrum bauen. In der Stadt formierte sich ein breiter Protest aus einer Nachbarschaftsinitiative und der „Antifaschistischen Koordination“, die sich gegründet hatte, um die Nazis aus der Stadt zu treiben. Von 1986 bis 1989 fand jeden Freitagabend eine Mahnwache vor dem Haus statt und über die Jahre zahlreiche Demonstrationen. Von der Öffentlichkeit kam breite Unterstützung für die Proteste gegen die Naziimmobilie. Das Bündnis reichte über viele Partei- und Milieugrenzen. Das Bielefelder Bauamt setzt den Neonazis mit Auflagen immer wieder neue Hürden für den Umbau und bekam Drohanrufe. Die Neonazis, die in das Haus eingezogen sind, verschanzen sich hinter einem Nato-Maschendrahtzaun und kommen bei den Protestmahnwachen raus, um Fotos zu machen. Die Polizei findet bei einem Einsatz Feindeslisten mit Steckbriefen. Das erinnert fatal an aktuelle Morddrohungen, aber es war die Nationalistische Front, die das Haus 1989 resigniert aufgab. Ein entscheidender Unterschied zu dem, was bald schon im Osten vor sich ging.

Die Nachbarin stieg aus der Neonaziszene aus, irgendwann in der Zeit zwischen den Pogromen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen. „Eigentlich habe ich nichts gegen Ausländer“, sagte sie damals. Wir beide kommen aus Familien, die man als SPD-nah beschreiben würde und sind mit den Kindern der sogenannten Gastarbeiter aufgewachsen. Einige, die später bedroht, beleidigt und angegriffen wurden, kannten wir seit dem Kindergarten oder der Grundschule. Und genauso lange begleitet unsere Gesellschaft die Debatte, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei. Ob die Nachbarin selbst an Angriffen beteiligt war, weiß ich nicht, darüber hat sie nie mit mir gesprochen. Nur vage über die Gewalt, die sie irgendwann abgestoßen hat. Die Gewalt gegen die Opfer und die Gewalt unter den Tätern. Spuren von der Brutalität, die auch innerhalb ihres rechtsextremen Umfelds herrschte, konnte man in den Wochen vor ihrem Ausstieg in ihrem Gesicht ablesen.

1995 zog ich nach Berlin und landete ausgerechnet in Lichtenberg. In meiner Straße gab es einen Friseursalon, in dem den ganzen Tag das Schergerät surrte. Auf dem S-Bahn-Steig standen samstags nach dem Fußballspiel 70 Neonazis und sangen das Horst-Wessel-Lied. Ich sagte einem Polizisten, das Lied sei verboten. Seine Antwort: „Ich höre nichts.“

In der Gütersloher Innenstadt sah man ab den 90er Jahren ein paar weniger Neonazis, einige bevorzugten die ländlichen Gebiete, andere zog es zur Agitation nach Ostdeutschland. Als dort die Baseballschlägerjahre begannen, erklärte man den Neonazismus zum ostdeutschen Problem. Über den rechten Terror in den 80ern wollte man nicht mehr sprechen. Es ist ein gesamtdeutsches Phänomen, aus dem die AfD schöpft.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.

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