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Anfällig | Das Gefühl, überleben zu können

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Auf dem zweiten Bundeskongress der Missbrauchsbetroffenen ist viel von Sportvereinen und der Kirche die Rede
Das Gefühl, überleben zu können

Als Sechsjährige trainierte Jasmin in den neunziger Jahren in einem kleinen Dorf an der Grenze zu Frankreich in einem Taekwondo-Verein. Der Trainer, ein allseits anerkannter Mann, lockte sie zu sich nach Hause, versprach ihr Intensivtraining und besondere Betreuung. Dort kam es zu sexuellen Übergriffen. „Ich kann nicht sagen, wie lange das ging. Und ich konnte das damals überhaupt nicht einordnen, ich kannte das nicht und wusste einfach nicht, ob das richtig oder falsch ist“, erzählt sie. Als die Eltern eines anderen Mädchens den Trainer anzeigten, stellte sich heraus, dass auch andere Kinder bei ihm „Privatstunden“ hatten. Es kam zum Verfahren.

Jasmin R. ist einer von unzähligen Menschen, die minderjährig sexualisierte Gewalt erlebt haben. Unzählig, weil das Dunkelfeld niemand genau ausleuchten kann. Eine Million Kinder und Jugendliche, so Renate Bühn, leben schätzungsweise in der Bundesrepublik aktuell in einer Missbrauchssituation. Bühn gehört dem Betroffenenrat an, dem Mitsprachegremium beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen sexuellen Kindesmissbrauchs, der vergangenes Wochenende den zweiten Betroffenenkongress organisiert hat.

Von der Decke des Festsaals im Jugendgästehaus Berlin pendeln Blusen und Hemden, auf denen steht: „Weiße Fassaden hinter weißen Vorhängen, auf weißen Familientischdecken – die Hemden der Vergewaltiger sind weiß.“ Auf Wandtafeln erzählen Opfer sexualisierter Gewalt ihre Geschichten, Künstlerinnen und Künstler stellen vor, wie sie ihre Gewalterfahrung verarbeiten, ein kleiner säkularer Altar erinnert an diejenigen, die sie nicht überlebt haben. „Ein Basiscamp“, lobt der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes Rörig, dessen Amt gerade verlängert worden ist, die Veranstaltung in seinem Grußwort.

Haupttatort ist die Familie

Haupttatort ist nach wie vor die Familie. Doch weil sexualisierte Gewalt vor Ländergrenzen nicht Halt macht, hat der Rat dieses Mal auch zahlreiche Betroffene und Aktivistinnen aus dem europäischen Ausland, aus den Philippinen, den USA, Nicaragua, Kenia oder Australien eingeladen, um Erfahrungen auszutauschen und sich zu vernetzen. Denise Buchanan aus Jamaika erzählt, wie sie von einem Priester vergewaltigt worden ist, schwanger wurde und abtreiben musste in einem Land, in dem man über solche Dinge nicht sprechen kann. Peter Isely, der in den USA SNAP gegründet hat, die weltweit älteste Betroffenenorganisation, kritisiert, dass die katholische Kirche ihr Wissen über die konkreten Täter zurückhält. „Gerechtigkeit“ sei das Wort, das die weltweite Gemeinschaft der Überlebenden zusammenhalte.

Entsetzen über das Ausmaß sexueller Übergriffe von Priestern hat in Deutschland die gerade öffentlich gewordene Studie der Katholischen Bischofskonferenz ausgelöst. Von 3.677 mutmaßlichen Opfern ist die Rede und von mindestens 1.670 Tätern, unter denen besonders viele direkt dem Bistum unterstellte Diözesanpriester sind. Ein „hierarchisch-autoritäres System“ und klerikaler Korpsgeist begünstigten den Missbrauch, so die Autoren, aber auch die Vertuschung über Jahrzehnte. „Leute, die so etwas tun“, erklärt Familienministerin Franziska Giffey (SPD) auf dem Kongress kategorisch, „haben in keinem Amt der Kirche mehr etwas zu suchen.“

Doch nicht nur die katholische Kirche ist als Institution anfällig für sexualisierte Gewalt, auch im Sport treffen extreme Abhängigkeit und eine Atmosphäre von unbedingter Loyalität und Vertrauen aufeinander und bereiten den Boden, der sexuelle Grenzüberschreitungen und Gewalt ermöglicht. Immer öfter melden sich, bestärkt durch die MeToo-Bewegung, prominente Sportler zu Wort, die entsprechende Erfahrungen gemacht haben. Von der Olympiaturnerin Simone Biles, die von ihrem Teamarzt Larry Nassar mutmaßlich missbraucht wurde, über die Eiskunstläuferin Nadine Pflaum, an der Karel Fajfr in den Trainingslagern „herumgefummelt“ hat, bis hin zu den britischen Fußballern, die die Trainer Barry Bennell und George Ormond beschuldigen, sie als Nachwuchsspieler missbraucht zu haben. Vor dem Landgericht Erfurt muss sich derzeit ein Turntrainer dafür verantworten, der in 80 Fällen die ihm anvertrauten Mädchen sexuell belästigt haben soll. Es ist einer der Fälle, die oft unter dem Radar bleiben, weil es gerade in kleineren Vereinen noch an der „Aufmerksamkeitskultur“ mangelt, von der Renate Bühn vom Betroffenenrat spricht.

Das Verfahren gegen Jasmins Trainer wurde eingestellt, wie Tausende andere jedes Jahr. „Manche Leute im Dorf“, sagt sie, „nahmen ihn sogar in Schutz und unterstellten, wir hätten das alles erfunden.“ Der Trainer wurde zwar entlassen, doch mit ihren Erlebnissen blieb Jasmin allein. „Mit meinen Eltern konnte ich darüber überhaupt nicht reden, obwohl sie es immer wieder versuchten“, erinnert sie sich. 14 Jahre lang hat die junge Frau das herumgeschleppt. Sie wurde Polizistin, doch in ihrem Job holten sie die Erfahrungen bei der täglichen Arbeit ein. „Ich merkte, wie das wieder hochkam und mein Leben einzuschränken begann. Damals war ich 20, ich habe mich völlig leer gefühlt, wie eine Hülle, einmal stand ich eine Stunde unter der Dusche, ohne etwas zu tun.“ Das ging ein halbes Jahr so, dann hat sie sich professionelle Hilfe organisiert.

Heute engagiert sich Jasmin R. bei VOICE (Voices for Truth and Dignity), einem EU-finanzierten, von der Deutschen Sporthochschule Köln (DSHS) koordinierten Projekt, in dem Betroffene sexualisierter Gewalt im europäischen Sport bestärkt werden, über ihre Erfahrungen zu berichten. „Sport“, stellt Gitta Axmann vom Institut für Soziologie und Genderforschung an der DSHS fest, „ist sehr körperzentriert, das ist ein besonderer Risikofaktor für sexualisierte Gewalt. Man setzt den Körper ein, und das Verhältnis wird schnell sehr nah, etwa durch das Geben von Hilfestellung. Man muss gerade als Trainer ein präzises Gefühl dafür entwickeln, was in Ordnung ist und was nicht.“

Boxen in der Männerwelt

Im Rahmen von VOICE, berichtet Axmann, hat sie zusammen mit Bettina Rulofs 72 europäische Sportlerinnen und Sportler zu ihren Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt befragt, angefangen von Verbalattacken über Grenzverletzungen – etwa unwillkommene Umarmungen – bis hin zu bewusst übergriffigen Körperkontakten und Gewalt. 61 Prozent der Befragten hat schon einmal unmittelbar körperliche Übergriffe erfahren, 58 Prozent sexuelle Grenzverletzungen. Die durchschnittliche Dauer der Gewalterfahrungen liegt bei rund 4,7 Jahren. 44 Prozent der Interviewten waren damals jünger als zwölf, 25 Prozent zwischen 13 und 15 Jahre. Dabei gibt es keine Sportart, die dagegen gefeit wäre; in fast vier Fünftel der Fälle waren es Trainer, die sich den Kindern und Jugendlichen unangemessen näherten, darunter eine Frau. In immerhin elf Prozent der Fälle gehörten die Täter dem Vorstand an oder verkörperten eine andere Autoritätsperson.

Leistungssportler, erklärt Axmann, seien dabei besonders verletzlich, weil es sich um eine Gruppe handele, die lernt, über Grenzen zu gehen. „Es muss schmerzen und unangenehm sein, und dabei verlieren sie ihre eigenen Grenzen gegenüber dem Trainer aus den Augen. Diese aber nutzen ihre Macht und die Abhängigkeit der Sportler aus, die viel in den Sport investiert haben und fürchten, aus dem Team ausgeschlossen zu werden und ihre Sportart nicht mehr betreiben zu können. Das begünstigt das Vertuschen und Verschweigen.“

Die erfolgreiche deutsche Boxerin Sarah Scheurich wollte das Schweigen nicht mehr hinnehmen. Zusammen mit ihren Mitathletinnen hat sie die Kampagne „Coach, don’t touch me“ ins Leben gerufen, nachdem sie in ihrer Sportart zwei einschlägige Fälle erlebt hat, einen in ihrem unmittelbaren Umfeld. „Boxen ist ein sehr männerdominierter Sport“, erklärt sie, „Frauen haben dort mit vielen Vorurteilen zu kämpfen und sind schnell einzuschüchtern.“ Zwischen Trainer und Sportler bestehe immer ein Abhängigkeitsverhältnis, „man möchte gut sein, Anerkennung erringen“. Deshalb kämpft Scheurich für klare Regeln, „es geht zum Beispiel nicht, dass ein Trainer in einem Trainingslager mit Unter-18-Jährigen ein Zimmer teilt“. In einem Schullandheim wäre das undenkbar. Ihre Kampagne hat bereits einen Katalog mit klaren Verhaltensregeln ausgearbeitet.

Auch Dorina Kolbe vom Betroffenenrat ist es wichtig, dass in allen Sportarten entsprechende Schutzkonzepte eingeführt werden. „Dabei muss den Trainern die Angst vor Vorverurteilung genommen werden, es darf nicht der Eindruck entstehen, sie stünden unter Generalverdacht. Kinder und Jugendliche sollen ihre Sportart in einer angst- und gewaltfreien Atmosphäre ausüben können.“ Einig sind sich die Experten, dass das nur von oben nach unten geht: Die Spitzenverbände müssen die Landessportverbände und diese wiederum die Vereine motivieren, sich des Themas anzunehmen, das heißt vor allem, Schulungen anzubieten und Ansprechpartner zu benennen.

„Wir dürfen uns nicht immer weiter von Skandal zu Skandal hangeln“, bekräftigt auch Johannes Rörig, der in Franziska Giffey nun offenbar eine Mitstreiterin gefunden hat. Sie will sich dafür einsetzen, dass die Institution des Bundesbeauftragten auf Dauer gestellt und die Arbeit der Aufarbeitungskommission verlängert wird. Und sie kündigte an, das Entschädigungsopfergesetz zu reformieren. Bislang müssen Betroffene 24 bis 26 Monate auf Bearbeitung warten.

Die Gewalterfahrung, erzählt Jasmin R. am Ende unseres Gesprächs, sei der Grund gewesen, weshalb sie zur Polizei gegangen ist. Sie habe auch ein Gespür dafür entwickelt, ob Betroffene, die eine Tat anzeigen, die Wahrheit sagen. Nach der Therapie, sagt sie, „hatte ich das Gefühl, überleben zu können“.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.

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