Skispringen: Horst Hüttel zu Idee von Martin Schmitt – "diskussionswürdig"
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Auf den Olympiaschanzen in Predazzo gab es schwere Stürze. Nun wurden Änderungen beschlossen. Das sagen DSV-Sportdirektor Horst Hüttel und Martin Schmitt dazu. Im Februar des kommenden Jahres starten die Olympischen Winterspiele 2026 in Mailand und Cortina d'Ampezzo. Doch nur wenige Monate vor dem wichtigen Großereignis für Sportler stehen die olympischen Skisprungschanzen in Val di Fiemme im Fokus. Denn beim Sommer-Grand-Prix waren dort gleich drei Athletinnen gestürzt und erlitten Kreuzbandrisse. Im Anschluss forderten Skispringerinnen wie Österreichs Chiara Kreuzer und Deutschlands Leistungsträgerin Selina Freitag Anpassungen für mehr Sicherheit. Auch DSV-Sportdirektor Horst Hüttel forderte im Gespräch mit t-online bereits ein Hinterfragen der Schanzenbau-Richtlinien. Zudem wünschte sich der 57-Jährige Änderungen bei den Anzügen der Frauen. Der Internationale Skiverband Fis geriet unter Druck. Skisprung-Renndirektor Sandro Pertile kündigte an, die jüngsten Geschehnisse am Mittwoch auf die Agenda der Herbst-Tagung zu setzen. Diese hat erste Erkenntnisse gebracht: Es gibt ab sofort Änderungen an den Anzügen der Damen, wie DSV-Sportdirektor Horst Hüttel im Gespräch mit t-online bestätigt. Auch Fis-Renndirektor Pertile bestätigte auf Anfrage von t-online: "Nach einer langen und sorgfältigen Diskussion hat der Fis-Unterausschuss für Ausrüstung und Entwicklung beschlossen, die Vorschriften für Damenanzüge anzupassen." "Beschlossen, dass Umfang des Sprunganzuges vergrößert wird" Hüttel erklärt die Änderungen: "In der Equipment-Kommission ist beschlossen worden, dass bei den Damen ab sofort der Umfang des Sprunganzuges vergrößert wird auf bis zu fünf Zentimeter über dem Körpermaß." Und weiter: "Bisher waren es vier Zentimeter, jetzt ist es ein Zentimeter mehr. Das hört sich nicht so groß an, wird aber eine gewisse Auswirkung haben." Schwere Stürze auf Olympiaschanzen: "Wäre komplett falsch, jetzt nicht zu handeln" Doch damit nicht genug. "Das Maß der Schrittlänge, das mitentscheidend ist für das Tragegefühl, wird zudem ab sofort um zwei Zentimeter vergrößert, um hier ein Stück weit die aerodynamische Flugqualität zu erhöhen", sagt Hüttel weiter: "Ich glaube, dass dies eine gute Entscheidung ist und die haben wir als Deutscher Skiverband (DSV) auch unterstützt und befürwortet." Bis zum nächsten Sommer-Grand-Prix in Klingenthal im Oktober werde die Nähabteilung des DSV "heiß laufen", wie der Sportdirektor berichtet: "Die Veränderungen bei den Damen betreffen alle internationalen Wettkampfebenen." "Im Kopf haben, dass Sprünge nicht mehr kalkulierbar waren" Auch eine deutsche Skisprung-Ikone sieht die Entscheidung positiv: Die Änderungen könnten "ein guter Schritt" sein, "um so die Flugkurve und die Landegeschwindigkeit für die Sportlerin im positiven Sinne zu beeinflussen also zu reduzieren", sagt Martin Schmitt im Gespräch mit t-online. Der Olympiasieger von 2002 mit der Mannschaft hat allerdings auch Bedenken: "Man muss aber immer auch im Kopf haben: Es war in der letzten Saison und auch die Jahre zuvor immer wieder auch mal ein Thema, dass Springer ganz weit gesprungen sind, dass Sprünge stellenweise nicht mehr kalkulierbar waren." So flog der Slowene Timi Zajc in Willingen beim Weltcup vor zwei Jahren beispielsweise 161,5 Meter weit, nachdem er von einer Windböe erfasst wurde. Zwar hatte er trotz eines Sturzes Glück, doch außerordentlich weite Sprünge gab es immer mal wieder. "Und gerade deswegen hat man sich ja auch dazu entschlossen, Fläche zu reduzieren", meint Schmitt und hebt damit hervor, dass die neuen Änderungen auch einen Rückschritt bedeuten. Denn: Nach dem Anzugskandal der Norweger bei der WM in diesem Jahr wurde ein neues Reglement eingeführt, die Anzüge daraufhin eigentlich enger gemacht, um in Zukunft Manipulationen zu vermeiden. Ausreichend? "Die Frage kann man heute noch nicht beantworten" Daher betont Schmitt: "Ich glaube, hier ist es einfach wichtig, dass man zwischen dem Frauen-Skispringen und dem Männer-Skispringen unterscheidet, und dass man für beides eben das optimale Reglement findet." Die neue Anzuganpassung gilt nur für die Frauen und nicht für die Männer. Doch reicht die Anzugänderung aus? Hüttel erklärt: "Die Frage kann man heute noch nicht beantworten, dafür braucht man sicher noch Zeit." Er fügt an: "Das gesamte Thema ist jedoch sehr komplex und es stehen mehrere Ideen von mehreren Experten und Nationen im Raum." Schmitt, der das Skispringen in Deutschland Ende der 90er Jahre populär gemacht hatte, denkt in Sachen Anpassungen sogar noch einen Schritt weiter. Für ihn könnte noch mehr Sicherheit geschaffen werden. "Der Anzug ist nur ein Teilbereich des Materials, und da sind wir dann schon bei den Schuhen, bei den Bindungen, die auch ihren Teil dazu beitragen, dass die Landung erschwert ist", erklärt er im Gespräch mit t-online. Schmitt: "Material unter Lupe nehmen, aber auch Landung selbst" Der vierfache Weltmeister regt an: "Man sollte das verwendete Material insgesamt unter die Lupe nehmen, aber auch die Landung selbst." Gerade bei Schuhen und Bindungen sieht Schmitt Verbesserungspotenzial: "Die moderne Ausrüstung hat die Flugphase deutlich stabiler und sicherer gemacht, aber für die Landung ist das Material eigentlich nicht gemacht." Warum? "Die Schuhe sind schon sehr steif und werden zusätzlich mit Carbonschalen verstärkt", so Schmitt, der inzwischen Experte bei Eurosport ist und regelmäßig live an der Schanze dabei ist. "Sie sind stark nach vorne geneigt, und dazu kommen Keile im Schuh, die vor paar Jahren aber schon reglementiert wurden." Diese seien früher zwar noch dicker gewesen, aber noch immer nicht ideal. Schmitt betont: "Trotzdem ist die Fuß- und Beinstellung, mit der ein Sportler oder eine Sportlerin bei der Landung aufkommt, immer noch eine Risikosituation, insbesondere bei einer Telemarklandung." Vor der vergangenen Saison gab es eine neue Regel. Die Telemarklandung – bei der ein Knie beim Aufkommen der Ski in gebeugter Stellung nach innen knickt – bekam wieder mehr Gewicht. Sprungrichter dürfen seitdem drei statt zuvor zwei Punkte bei einer unsauberen Landung abziehen. Ex-DSV-Adler Markus Eisenbichler nannte die Änderung damals "bescheuert". Auch Schmitt betont nun, dass der Telemark "ohne Not" in der Bewertung aufgewertet worden sei. Schmitt: "So wird der Sportler in diese Risikosituation gezwungen" Diese Aufwertung trägt dazu bei, dass die ungute Haltung, wie von Schmitt beschrieben, auch weiterhin auftreten wird. Das heißt: "Bei fast allen Springern, selbst bei sehr guten Landungen, knickt das Knie in gebeugter Stellung nach innen, um so den für den Telemark notwendigen Winkel überhaupt zu erreichen", erklärt der einstige Publikumsliebling. Dadurch erhöhe sich das Verletzungsrisiko laut Schmitt "deutlich", wenn in "in dieser unnatürlichen Haltung außergewöhnliche Kräfte – beispielsweise durch einen weiten Sprung, eine hohe Flugkurve, eine Bodenwelle oder eine Verdrehung – wirken." Schmitt war jahrelang für Deutschland im Einsatz und weiß, was diese Kräfte mit dem Körper machen. Zudem kennt der 47-Jährige den Druck, im Wettkampf bestmöglich abliefern zu wollen – natürlich im Sinne der bestmöglichen Punkte, also im aktuellen Fall mit Telemark. "So wird der Sportler auch in einer Extremsituation wie bei sehr weiten Sprüngen eigentlich in dieses Risiko gezwungen. In meinen Augen sollten diese Aspekte in einer Sicherheitsdebatte auch berücksichtigt werden", sagt Schmitt. Hüttel: "Ansatz von Schmitt mutig, aber absolut diskussionswürdig" Der Ex-Springer regt also an, die Telemark-Landung zu streichen oder sie in der Bewertung nicht so stark einzubinden. Horst Hüttel unterstützt die Gedankengänge von Schmitt im Gespräch mit t-online: "Ich persönlich finde den Ansatz von Martin Schmitt mutig, aber absolut diskussionswürdig. Es sollte bei der Sicherheit von Athletinnen und Athleten kein Tabuthema geben, deswegen kann ich auch seine Gedanken dahinter verstehen." Hüttel ergänzt: "Er vertritt den biomechanischen Ansatz, dass sich der Landedruck bei einer Landung ohne Telemark verringern würde. Die Aussage müssen am Ende Wissenschaftler beantworten und bestätigen, doch es würde mich wundern, wenn diese zu einem anderen Ergebnis kommen würden. Deswegen muss man schauen, wie man das Thema weiter begleitet." "Es ist jedoch definitiv so, dass das Landeverhalten an sich eine Auswirkung auf den sogenannten Impact im Körper hat. Also auf den Druck, der im Knie entsteht, wenn eine Athletin landet. Es gibt Wissenschaftler und Biomechaniker, die sich damit auseinandergesetzt haben und auch bereit sind, sich weiterhin damit auseinanderzusetzen." Hüttel: "Sie wollen an der Schanze noch zwei Dinge vornehmen" Mit Blick auf Olympia gab es zuletzt auch Diskussionen um die Normalschanze in Predazzo. Hüttel nannte sie zuletzt "nicht modern und nicht gut gelungen". Schmitt erklärt aus seiner Sicht, dass sowohl Groß- als auch Normalschanze "nicht total ungewöhnlich" seien. "In der letzten Zeit wurden leider häufiger 'moderne' Schanzen mit einer ähnlichen Charakteristik gebaut", so die Skisprung-Ikone. Für die Athletinnen und Athleten ist der Unterschied laut Schmitt spürbar: "Man hat auf diesen Schanzen eher ein 'fallendes' Gefühl also nicht das schöne Gefühl des Gleitens, des Fliegens. Das führt auch zu einem höheren Landedruck nicht nur im ganz hohen sondern auch schon im mittleren Weitenbereich." Allerdings ist auf solch einer Schanze die Wettkampfsteuerung für den Internationalen Skiverband und die Organisatoren laut ihm einfacher. Das Feld rückt "enger zusammen", meint Schmitt. "Es wird einfacher die richtige Anlauflänge festzulegen und bei Aufwindbedingungen ist die Gefahr geringer, dass ein Sportler 'wegfliegt' also zu weit springt." So wie im Fall von Zajc vor zwei Jahren. Die Normalschanze soll jedoch verändert werden, erklärt Hüttel t-online. Bei der Tagung der Fis war auch eine Delegation des Organisationskomitees aus Predazzo anwesend. "Man hat gemerkt, dass sie sehr betroffen sind und die Angelegenheit sehr ernst nehmen. Sie wollen an der Schanze noch zwei Dinge korrigieren: Zum einen wollen sie die Neigung des Schanzentisches verändern, um die Flugkurve dementsprechend flacher zu gestalten. Darüber hinaus wollen sie im Winter mit der Schneeauflage gewisse Profilanpassungen im Aufsprunghang vornehmen." Ob es funktioniert? "Es wird die Praxis zeigen, inwiefern diese Maßnahmen mithelfen, um eine schönere und harmonischere Flugbahn herzustellen", meint der frühere Nordische Kombinierer. Abschließend betont Hüttel in Bezug auf die Geschehnisse und Änderungen: "Wir hoffen sehr, dass das Thema weiterhin bei der Fis Beachtung findet, denn es muss alles darangesetzt werden, dass wir diese Kreuzbandproblematik wieder aus unserem Sport herausbekommen oder zumindest drastisch reduzieren."