Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Die Moldau: Märchen und Mythos. Smetana setzte ihr einst ein musikalisches Denkmal in seinem sinfonischen Zyklus Ma Vlast. Wanderfahrten sind dort eher selten, was zur Folge hat, dass die Flussbeschreibung eher lückenhaft ist. Der Tschechische Ruderverband kennt Wanderrudern gar nicht. Der Kanuverband räumt ein, dass die Kanuten für ihre Wanderfahrten den Streckenabschnitt weit oberhalb von Budweis bevorzugen. Immerhin gibt es ein Wasserstraßeninformationssystem im Internet, auf Wunsch englischsprachig. Letzteres gilt aber nur für die Website, nicht für die Schleusenwärter am anderen Ende der Telefonleitung.
Unser Plan ist, von Budweis nach Prag zu Rudern. Wenn alles funktioniert, lässt sich diese Strecke ohne Umtragen bewältigen. Ganz sicher können wir dessen nicht sein: Es gibt zwei Staudämme, über deren Übersetzmöglichkeiten wir mehr Negatives als Positives hören. Außerdem soll die Schleuse in Kořensko wegen des niedrigen Wasserstands gesperrt sein und überhaupt das Vorankommen zwischen Týn nad Vltavou und dem Orlik-Stausee wegen des Wasserstands ungewiss. Am Grunde der Moldau wandern die Steine…
Die lange Autofahrt nach Budweis führt uns durch Prag. Es gibt immer noch keine Umgehungsautobahn, so dass man sich auf innerstädtischen Schnellstraßen durch triste Vororte kämpft. Die ersten Impressionen der goldenen Stadt wirken eher ernüchternd.
Von Budweis sehen wir nicht viel. Als wir ankommen, ist es bereits stockdunkel und am nächsten Morgen geht’s zügig aufs Wasser. Es gibt einen Sportverein mit Ruderabteilung, an dem wir starten. Nach wenigen Kilometern haben wir die Stadt hinter uns gelassen und sind inmitten herrlicher Landschaft Südböhmens unterwegs. Zur ersten Rast legen wir in Hluboká an, dessen im Tudorstil erbautes Schloss malerisch über dem Fluss thront. Es zählt zu den schönsten Schlössern Böhmens.
Vier Schleusen mit beachtlichem Gefälle von bis zu 15 m stehen am ersten Rudertag auf dem Plan. Die Festmacher sinken mit dem Wasserstand, so dass unsere Schleusenleinen dafür problemlos reichen. In Purkarec gibt es an einem Sandstrand noch ein Nachmittagspause, bevor wir uns dem Kanuklub in Týn nähern. Dort bleibt das Boot liegen.
Wir finden Quartier in einfachen Bungalows auf einem Campingplatz etwas außerhalb. Sehr schöne Lage an der Lužnice, einem Nebenfluss der Moldau. Zum Essen haben wir ein Restaurant in Týn direkt am Moldauufer gewählt. Speisekarte nur auf Tschechisch, aber der Kellner übersetzt geduldig jedes Gericht in Englische. Einiges mehrfach. Am Ende sind alle mit ihrer Wahl zufrieden und das Essen ist wirklich sehr gut.
Am folgenden Morgen merken wir in unseren Campingbehausungen deutlich, dass die Nachtemperaturen Herbstniveau erreicht haben. Entsprechend eindeutig klärt sich die Frage, ob wir draußen oder drinnen frühstücken wollen. Ungeklärt hingegen ist zu diesem Zeitpunkt das Ende der zweite Ruderetappe. Wir haben in der Nähe von Orlik als nächstes Quartier zwei Hütten gebucht, die zu einem Yachtclub gehören. Bis dahin sind allerdings knapp 50 Kilometer zu rudern. Stehendes Wasser! Und wir wissen nicht, was uns an der Schleuse Kořensko erwartet, als wir in Týn vom letzten Ruderboot tauglichen Steg bis Prag ablegen. Letzten Auskünften zufolge soll die Schleuse bis Jahresende außer Betrieb sein. Der Schleusenwärter gestikuliert aus seinem Fenster heraus, zeigt auf die Schleusenkammer, die Ampel springt auf grün und wir können passieren. Dies ist die letzte Staustufe vor dem Orlik-Staudamm, wir haben die folgenden 55 Kilometer freie Fahrt.
Die Landschaft ist einmalig schön: Felsige Ufer umsäumen das dunkelgrüne Wasser, aus dem hin und wieder Fische springen. Indes schlägt sich unser Landdienst nach Podolsko durch. Dort gibt es einen Campingplatz und eine Werft mit Sandstrand zum Anlegen. Landdienst ist ein Thema für sich auf dieser Tour: Straßensperrungen, Sprachbarrieren und die Suche nach sehr spärlich vorhandenen Einkaufsmöglichkeiten kosten einfach immens viel Zeit. Viel Spielraum bleibt da nicht, bis das Boot in Sichtweite kommt. Die Nachmittagsetappe wird wieder lang, aber das Wetter meint es gut mit uns, es ist leicht bewölkt mit angenehmen Temperarturen knapp über 20 Grad. Die Moldau wird auf diesem Abschnitt zunehmend breiter. Die Felswände werden schroffer. Links und rechts zahlreiche Buchten mit Sandstränden, kaum Besiedlung. Etwa fünf Kilometer vor dem Ziel erwischt uns ein heftiger Gegenwind, Wellen bauen sich auf und lassen erahnen, dass es hier bei stärkeren Böen durchaus ungemütlich werden kann. Längst ist unsere Entscheidung gefallen, die letzten Kilometer bis zum Yachtclub Barrandov durchzurudern. Treffliche Entscheidung: Das Boot lagert auf dem großzügigen Grundstück des Clubs und wir haben es nicht weit zu unseren Holzhütten, die in völliger Ruhe und Abgeschiedenheit am Waldrand liegen. In dem kleinen Ort Orlik finden wir am Sonntagabend noch ein Gasthaus, in dem man uns sehr herzlich bewirtet: Der Wirt – ein Unikum in Shorts, grauem Feinripp-Hemd und roter Schürze – holt für uns extra noch mal seine Familie aus dem Feierabend. Es gibt leichte böhmische Küche: Gulasch mit Knödeln für alle, Pfannkuchen mit Obst und Sahne und anschließend Schnaps aufs Haus.
Am nächsten Morgen wachen wir im Frühnebel auf, der einen wunderschönen Rudertag verspricht. Bereits zum Ablegen scheint die Sonne. Die Moldau staut sich auf den folgenden 10 -12 Kilometern zum Orlik-See. Die weiten Wasserflächen umgeben von bewaldeten Felsen erinnern an Skandinavien. Spiegelglattes Wasser sorgt für puren Rudergenuss. Am Ende des Sees liegt Tschechiens größte Talsperre. Kleinere Boote können nach Anmeldung einen Bootslift benutzen. Das Boot wird auf einer waagerechten Plattform auf Schienen über den Staudamm befördert, die Mannschaft darf in einer Art Förderkorb mit dem Maschinenführer mitfahren. Am Scheitelpunkt schwenkt die Konstruktion um 180 Grad, so dass das Boot mit dem Heck zuerst ins Wasser gleitet.
Entsprechend tief schneidet der Fluss unterhalb der Staumauer in die Landschaft ein. Eine einsame Bucht mit glasklarem Wasser lädt zum Baden ein – und Zeit haben wir reichlich auf dieser verhältnismäßig kurzen Etappe nach Kamýk. Dort können wir Einkaufen, Tanken, Geld holen, Eis essen und Kaffeetrinken, bevor es mit dem Auto zurück in unsere Hütten nach Barrandov bei Orlik geht. Vorher machen wir noch ein Abstecher zur Burg Orlik, die wie bereits vom Wasser aus bewundern konnten.
Das Boot lagert oberhalb der Schleuse am Ufer, dort soll es an unserem vierten Rudertag weitergehen mit einer Schleusung. Wir finden an der Schleuse jemanden, um unseren Wunsch verständlich zu machen und erfahren: Geschleust wird erst am Mittwoch! Aber heute ist doch…? Nein, es ist erst Dienstag – und da wird in Kamýk nicht geschleust. Also kommt der eigens dafür mitgeschleppte Bootswagen doch noch zum Einsatz. Unterhalb der Staustufe Kamýk windet sich die Moldau in mehreren großen Schleifen durch bewaldete Täler. Bald ist der Rückstau vom Slapy-Staudamm deutlich zu merken, der Fluss weitet sich zum Stausee. Anders als auf dem Orliksee ist hier deutlich mehr los, es gibt mehrere Ortschaften, viele Bootsliegeplätze und sogar Strandbäder. An der Übersetzstelle des Staudammes endet unsere vierte Ruderetappe und wir fahren mit dem Auto in eine nahegelegene Pension auf der gegenüberliegenden Flussseite.
„Übersetzen mit Traktor der Schifffahrtsverwaltung, der aber nur montags, mittwochs und Freitag bis Sonntag fährt“, heißt es in der Streckenbeschreibung. Wir haben – Mittwoch! Und wir haben den Traktor gebucht, der mit seinem Anhänger unser Boot zum Unterwasser transportieren soll. Da niemand im Boot sitzt, kostet es den Traktorfahrer einiges an Geschick, seinen Anhänger und das Boot in den richtigen Winkel zueinander zu bringen. Nicht der Rede wert, dass der gute Mann weder deutsch noch englisch spricht. Endlich ist es geschafft, das Boot wird gesichert und ca. 2 km über Land zu unteren Einsatzstelle transportiert.
Wir fahren mit unserem Auto hinterher. Bei Abladen dann das gleiche Spiel: Das Boot kommt nicht so ganz einfach vom Anhänger frei, immer wieder bleiben die Ausleger in den Transportgurten hängen, bis schließlich einer von uns auf den Anhänger klettern darf, um ihm den entscheidenden Schub zu verpassen.
Auf dieser letzten Ruderetappe durchfließt die Moldau zunächst bis Štěchovice engen Schluchten und Täler. Es ist sonnig, felsig, einsam – und schön. Danach nähern wir uns der Hauptstadt Prag, was wir an der zunehmenden Geräuschkulisse sehr deutlich spüren. Nach viereinhalb Tagen Rudern in nahezu himmlischer Ruhe fällt dies besonders auf. Hinter der letzten Schleuse in Prag-Modřany begegnen wir vielen Kanus und Ruderbooten, die auf der Moldau trainieren. Zu Füßen des Vyšherads liegt die Ruderinsel mit drei großen Prager Rudervereinen, wo unsere letzte Ruderetappe dieser Moldaufart am Steg des Ruderklubs „BLESK“ endet.
Für zwei weitere Tage haben wir eine komfortable Ferienwohnung im Prager Stadtteil Prosek gebucht. Vom Balkon haben wir einen fantastischen Blick über die Stadt und die Metrostation ist in wenigen Minuten fußläufig zu erreichen. Wir erkunden die Altstadt auf touristischen Pfaden: Pulverturm, Altstädter Ring, Teynkirche und Königsweg dürfen natürlich nicht fehlen im Programm. Wir schlendern über die Karlsbrücke und fahren mit der Straßenbahn 22 zum Hradčany hinauf.
Ein absoluter Genuss ist eine Vorstellung der Oper Carmen im Prager Nationaltheater. Neben der erstklassigen Performance im prunkvollen Theatersaal ist die Aussicht von der Dachterrasse des Theaters über die abendlich erleuchtete Stadt ein weiteres Highlight.
Abseits des touristischen Rummels gibt es sehr viel zu entdecken. Weitaus weniger frequentiert als der Hradschin ist der frühmittelalterliche Burgwall Vyšherad mit der Basilika Peter und Paul hoch über der Moldau. Unter schattigen Bäumen lässt es sich verweilen und schwärmerisch die Aussicht über Stadt und Fluss genießen. Hier ist der zu finden, der Zauber der Goldenen Stadt.
Mit unglaublich vielen Eindrücken von einer bezaubernden Wanderfahrt auf der Moldau fahren wir am neunten Tag unserer Reise zurück nach Lübeck. Und mit Verwunderung, dass diese schöne Tour doch recht selten gerudert wird. Wir haben es sehr genossen! Dabei waren Merle Brockman, Lisa Meyer, Rebekka Schippers, Volker Tiedemann und
Karsten Schwarz
Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag
Das Große bleibt groß nicht – und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag!
Bertolt Brecht