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Sport | Von Senegal bis Saudi-Arabien: Was hält der Rest der Welt von der Fußball-WM in Katar?

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Menschenrechtsverletzungen, Diskriminierung der LGBTQ-Community, Ausbeutung von Arbeiter: In Deutschland und Europa ist die Kritik an der WM in Katar laut. Aber wie sehen andere Staaten der Erde dieses Turnier?
Von Senegal bis Saudi-Arabien: Was hält der Rest der Welt von der Fußball-WM in Katar?

Senegal

Von Kritik an der WM-Vergabe, am Gastgeber Katar oder am System FIFA hört man im westafrikanischen Senegal wenig. Allenfalls einige westlich geprägte Senegalesen in Europa üben Kritik an der verheerenden Menschrechtslage und den vielen Toten auf den Baustellen. Von Solidaritätsaktionen mit europäischen Mannschaften und der „One-Love“-Spielführerbinde ganz zu schweigen.

Im dem muslimischen Land selbst herrscht Verständnis für das Vorgehen der katarischen Regierung gegen Homosexuelle und andere Mitglieder der LGBTQ-Gemeinschaft. „Ich verteidige die Haltung der Kataris gegenüber Homosexuellen, denn in keiner Religion, nicht nur im Islam, ist Homosexualität erlaubt. Es ist etwas Unnormales und gehört verboten“, findet etwa der Journalist Coumba Ndoffène. Starker Tobak. Für ihn sind selbst die etwa 150.00 toten Arbeiter auf den Baustellen kein Grund zur Skepsis. Oder gar Anlass zur Kritik. „Es braucht eine unabhängige Untersuchung dazu. Denn die Zahlen der Kataris sind offenkundig ganz andere.“

Die Berichterstattung der senegalesischen Medien konzentriert sich fast ausschließlich auf das Sportliche. Und, da hat der Senegal – eine absolut fußballverrückte Nation – gute Chancen, seinen großen Erfolg von 2002 zu wiederholen. Vor 20 Jahren, bei der ersten WM-Teilnahme, spielten sich die Löwen von Teranga bis ins Viertelfinale vor und verloren dort nur denkbar knapp in der Verlängerung. Diesmal hat Senegal die Gruppenphase bereits überstanden, ist für das Achtelfinale qualifiziert und spielt nun gegen England.

Obwohl der amtierende Afrikameister auf seinen Weltstar Sadio Mané, der seit diesem Sommer beim deutschen Rekordmeister FC Bayern München unter Vertrag steht, verletzungsbedingt verzichten muss, ist der Optimismus im Land groß. Das 17-Millionen-Einwohner-Land steht wie eine Wand hinter seiner Nationalmannschaft. Selbst Fußballmuffels fiebern bei der WM mit, denn es geht ja schließlich um die stolze senegalesische Nation. Das war schon beim diesjährigen Afrika-Cup so. Als Dank an die Mannschaft und vor allem für die Unterstützung aus dem Volk war der Montag nach dem Finalsieg kurzerhand zum Feiertag erklärt worden. Nicht ausdenken, was passiert, wenn der Senegal Weltmeister wird. David Bieber

Schweiz: Das Wallis, wild und verschlagen

Es ist allgemein bekannt, dass es ein Schweizer ist, der uns die WM in Katar eingebrockt hat. Allgemein bekannt ist auch, dass sein Nachfolger, der uns die Suppe mit bizarren Reden weiter versalzen hat, ebenfalls ein Schweizer ist. Nun sind Sepp Blatter und Gianni Infantino nicht nur Schweizer, sie kommen auch aus dem gleichen Kanton, dem Wallis. Der eine ist in Visp geboren, der andere in Brig. Das Wallis besteht im Wesentlichen aus dem Rhonetal und den Bergen links und rechts des Tals. Lange Zeit war das Gebiet schwer erreichbar. Nur über Passwege konnte man mit Wallisern in Kontakt treten, der Schmuggel nach Italien blühte, gesprochen wurde ein selbst für Schweizer schwer verständlicher Dialekt. Erst seit gut 100 Jahren ist es mit Italien und der deutschen Schweiz durch Tunnel direkt verbunden.

Das Wallis hat einen Menschenschlag hervorgebracht, der für Schweizer Verhältnisse wild und verschlagen ist, gerade auch, wenn es um Fußball geht. Den FC Sion, einziger Super-League-Klub des Kantons, finanziert ein berüchtigter Bauunternehmer, der in zweieinhalb Saisons zehn Trainer verschlissen hat. Nach dem Motto „Die größten Kritiker der Elche sind selber welche“ stärkt dieser Christian Constantin gerade seinem abgehalfterten Star Mario Balotelli den Rücken. Der hatte den Schweizer Fußballverband (SFV) mit der Mafia verglichen.

Wer in der Schweiz an Blatter, Infantino und die korrupte Fifa denkt, hat also irgendwie auch das Wallis vor Augen. Um hier keinen Binnenrassismus zu befördern: Der SFV-Kommunikationsleiter kommt auch aus dem Wallis. Adrian Arnold, einst Deutschlandkorrespondent des Schweizer Fernsehens, vertritt die durchaus progressive Haltung seines Verbandes bei dieser WM nach außen und ist sehr beliebt. Als Khaldi Salsam neulich Homosexualität als „geistigen Schaden“ bezeichnete, kam die Antwort postwendend. „Inakzeptabel, unwürdig, verletzend“ sei diese Äußerung, so Arnold, der wie Infantino in Brig geboren ist. Michael Angele

Tunesien und Marokko: Europa ist doch scheinheilig

Leergefegte Straßen – Cafés, Bars und eine Fanzone in einem schicken Vorort von Tunis hingegen rappelvoll: Von Boykott ist in Tunesien wie in Marokko, den beiden nordafrikanischen Teilnehmern der Fußball-WM nichts zu spüren. Eine Bekannte berichtet, sie habe während Tunesiens erstem Spiel ein Uni-Seminar gehalten. Zwei ihrer 30 Studierenden seien gekommen. Am Vortag hatte das Bildungsministerium Meldungen dementiert, wonach zum Spiel um 14 Uhr Ortszeit der Schulunterricht ausfalle. Das half nicht mehr viel. Arbeitnehmern hingegen gaben viele Firmen tatsächlich frei.

Ein bisschen stolz sind viele im Maghreb, dass die WM erstmals in einem arabischen Land ausgetragen wird, auch wenn sie sonst weder politisch noch kulturell viel mit Golfstaaten wie Katar gemein haben und deren erstarkenden Einfluss in der Region kritisieren. Ein Außenseiter-Sieg wie der Saudi-Arabiens gegen Argentinien wird gefeiert.

Europäische Boykottaufrufe sehen viele hier als Doppelmoral. Allzu oft schwiegen westliche Regierungen zu Menschenrechtsverletzungen oder Islamophobie in ihren eigenen Ländern, machten Geschäfte mit Autokratien, wenn es eigenen Interessen diente. Jetzt auf Katar rumzuhacken und sich halbherzig zu LGBTQ+-Rechten zu bekennen, das sei scheinheilig. Dies habe allerdings den paradoxen Effekt, so der tunesische Journalist Firas Kefi in der französischen Sportzeitung L’Équipe, dass viele arabische Fans auch berechtigte Kritik am Ausrichter einfach als anti-arabischen oder anti-muslimischen Rassismus zurückweisen würden. Sarah Mersch

Brasilien: Der Kampf um das gelb-grüne Trikot

Die Menschenrechtslage in Katar und die Korruption beim Weltfußballverband Fifa sind in Brasilien selten ein Thema, Politik und Fußball hingegen schon: Mehrere Spieler der „Seleção“ haben den rechtsradikalen Präsidenten Jair Bolsonaro unterstützt, Superstar Neymar machte ganz offen Wahlkampf für ihn. Das gilt nicht für alle. Richarlison, zweifacher Torschütze im Auftaktspiel, hat Bolsonaro mehrfach kritisiert und sich gegen Rassismus und Umweltzerstörung positioniert. Der Tottenham-Hotspurs-Stürmer spendet zehn Prozent seines Gehalt für soziale Projekte.

Eine große Debatte ist über das gelb-grüne Nationaltrikot entbrannt. Es wird liebevoll „Amarelinha“ genannt, das „kleine Gelbe“. Zuletzt ist es zum Symbol des Bolsonarismus geworden. Seit Bolsonaros Wahlniederlage gehen dessen Anhänger in den gelb-grünen Fußballtrikots auf die Straße, blockieren Autobahnen und belagern Armee-Stützpunkte. Einige stellen das Wahlergebnis in Frage und fordern ganz offen ein Eingreifen des Militärs. Das könnte ein Grund dafür sein, dass das große WM-Fieber in Brasilien bis zuletzt noch nicht ausgebrochen war.

Der brasilianische Fußballverband CBF versucht derweil, das Trikot mit einer Imagekampagne zu entpolitisieren. Auch etliche Linke tragen es nun wieder, viele ziehen jedoch das blaue Auswärtsjersey vor. Sollte die Nationalmannschaft bei dieser Weltmeisterschaft weit kommen, könnte es der Fußball tatsächlich schaffen, das tief gespaltene Land wieder ein Stück weit zusammenzubringen. Niklas Franzen

Saudi-Arabien: Auf Augenhöhe mit Brasilien

Saudi-Arabien präsentiert sich bei der WM auf Augenhöhe mit Brasilien. Wie der Rekordweltmeister hat Katars unmittelbarer Nachbar einen Pavillon errichtet, in dem er sich vorstellt – nur diese beiden Teilnehmer haben ein solches Investment getätigt. Wobei die Saudis das Ende der acht Kilometer langen Strandpromenade als Standort wählten: der Publikumsverkehr ist hier aufgrund der nahen Fan-Festival-Zone höher.

Aus Saudi-Arabien, ein Hauptabnehmer der WM-Tickets, kommen Fans zu Zehntausenden, meist tageweise, auch mit Bussen. Ein dauerhafterer Aufenthalt ist für sie reizlos, in Doha gibt es nichts, was ihnen aus der eigenen Kultur unbekannt wäre. Das Verhältnis ist belastet, Saudi-Arabien war treibende Kraft beim von Bahrain, Ägypten und den Vereinigen Arabischen Emiraten mitgetragenen Embargo von 2017 bis 2021. Saudischen Bürgern verbot ihre Regierung sogar, nach Katar zu reisen – eine Ausnahme gab es nur für den Fußball: 2019, zur Klub-Weltmeisterschaft, ging die Grenze kurze Zeit auf.

Die Eifersucht, dass das kleine Katar sich mit der WM als führende Nation im Nahen Osten in Szene setzt, ist spürbar. Doch Saudi-Arabien geht in die Offensive, die starke Präsenz in Doha ist der erste Akt der eigenen WM-Bewerbung für 2030 (mit Ägypten und Griechenland als Sidekicks, um die kontinentale Rotationsregel der Fifa zu umgehen, wonach Asien erst 2034 wieder WM-Schauplatz sein dürfte). Günter Klein

Iran: Fußball in Zeiten der Revolution

Dass die Spieler die Nationalhymne beim Eröffnungsmatch nicht mitsangen, hat eine Vorgeschichte: Kurz zuvor waren die im Iran spielenden Mitglieder der Nationalmannschaft zu einem Empfang bei Präsident Ebrahim Raisi geladen. Sie gingen hin, zeigten hohen Respekt. Raisi, Hardliner des Regimes, war in den 1980ern für Massenhinrichtungen Oppositioneller verantwortlich. In einem unfreien Land sind Gesten wichtig – auf der symbolischen Ebene zeigten sich die Spieler zu respektvoll. Ein Shitstorm in der Bevölkerung und von Exil-Iraner:innen war die Folge. Weder das Schweigen zur Hymne konnte dies einfangen noch der Kapitän, der betonte, das Team sei in Gedanken bei den Trauernden zu Hause. Im fußballverrückten Iran, wo sie ihre Helden vergöttern, war die Stimmung gekippt. Das Spiel ist so politisch wie noch nie, und es wird zerrissen zwischen dem Regime und dem aufbegehrenden Volk.

Iranische Fußballer kommen oft aus armen Familien, sie haben es jetzt geschafft – das Regime setzt sie unter Druck. Ihre kritischen Beiträge haben Stars wie Sardar Azemoun oder Mehdi Taremi meist kurz später aus sozialen Medien gelöscht. In so einer zugespitzten Situation erwarteten die Menschen mehr. Genau zu WM-Beginn griffen die Revolutionsgarden in den kurdischen Gebieten ein. Am Tag des historischen Sieges gegen Wales ertränkten Sicherheitskräfte Demos im Süden in Zahedan in Blut. Die Äußerungen der Spieler, sie wollten nur Fußball spielen, klingen in den Ohren vieler wie Hohn. So feierten nach dem Wales-Sieg fast nur die auf allen großen Plätzen stationierten Polizei- und Milizeinheiten mit Fahnen auf ihren Panzern.

Vor der WM, beim iranischen Pokalfinale, hatten die Spieler des Kultclubs Esteghlal Teheran sich geweigert, ihren Sieg zu feiern. In einer Zeit, in der so viele auf der Straße umgebracht werden und so viele trauern, sei es nicht angebracht, Tore zu bejubeln. Team-Kapitän Voria Ghafouri wurde inhaftiert, inzwischen wurde er gegen Zahlung einer Kaution freigelassen.

Ungewohnt kritisch haben sich vor allem Ex-Spieler geäußert, etwa der in Kanada lebende frühere FC-Bayern-München-Profi Ali Karimi; sein Instagram-Kanal ist mit mehr als 14 Millionen Followern ein Sprachrohr der Revolution. Oder die im Iran lebende Legende Ali Daei, bisher frommer Teil des Establishments – er sprach sich gegen die Gewalt des Staates aus und bestätigte inzwischen sogar öffentlich, dass er und seine Familie bedroht worden sind. Daeis Freund Adel Ferdosipour, dessen Die 90. Minute die populärste TV-Sendung der iranischen Geschichte war, verweigerte die Arbeit als WM-Kommentator und solidarisierte sich mit rebellischen Studierende. Pedram Shahyar

China: Eigentor für den Staatsapparat

Nachhaltigkeit und Menschenrechte rund um die WM in Katar sind im Reich der Mitte nicht einmal ein Randthema. Und dennoch hat das Fußballturnier in China, dessen Elf sich nicht qualifiziert hat, überraschend heftige Kritik ausgelöst. Diese richtet sich jedoch nicht gegen die Arabische Halbinsel, sondern gegen die Corona-Politik der eigenen Regierung: Denn während Millionen Chinesen im Lockdown sitzen und vorsorglich Nahrungsvorräte angelegt haben, feiern in Katar zehntausende Fußballbegeisterte ausgelassen im Stadium.

„Ich kann es nicht fassen: So viele Menschen auf einem Haufen ohne Maske?“, schreibt etwa ein User auf der Smartphone-App Wechat. Auf der Online-Plattform Weibo meint ein anderer User: „Leben die auf derselben Welt wie wir?“ Die Realität innerhalb Chinas könnte unterschiedlicher nicht sein: Bereits seit vielen Monaten wird der Alltag der Bevölkerung von nahezu täglichen PCR-Tests und erratischen Einschränkungen dominiert. Reisen in benachbarte Provinzen sind seit Jahresbeginn nahezu unmöglich, an Ferien im Ausland ist nicht einmal zu denken.

Dass ausgerechnet die Übertragung eines „harmlosen“ Fußballturniers zum Propaganda-Eigentor ausarten würde, hätte der Staatssender CCTV niemals erwartet. Dort lenkte man umgehend ein: Wann immer Nahaufnahmen von Fans ohne Maske gezeigt werden, schneiden die Chinesen stattdessen Bilder der Trainer oder Spieler ein. In der Parteizeitung Global Times behaupteten die Reporter vollkommen ohne Ironie, dass die Pekinger „freiwillig“ die WM zuhause schauen würden. Dass sämtliche Kneipen geschlossen haben und Millionen in ihren Apartments eingeschlossen sind, erwähnten sie nicht. Fabian Kretschmer

Portugal: Der Präsident spricht den Fans aus dem Herzen

„Katar respektiert die Menschenrechte nicht. Der Bau der ganzen Fußballstadien und so weiter. Aber, na ja, lasst uns das mal vergessen … Es ist kritikwürdig, aber lasst uns auf die Mannschaft konzentrieren.“ Mit diesen Worten gab Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa nach Portugals Auftaktspiel intuitiv die Einschätzung der meisten Fans im Lande wieder. Wichtiger als die Menschenrechte in Katar ist den meisten hier die Zukunft Cristiano Ronaldos, der sich als erster Profi ein Vermögen von mehr als einer Milliarde Euro erspielt hat. Um ihn machen wir uns große Sorgen: Er hat sich von seinem englischen Verein getrennt, seine Ehefrau ist auch ohne feste Anstellung, sie haben fünf Kinder!

In Portugal, wo es drei Fußballtageszeitungen gibt und die Hauptnachrichten aller Sender mit Fußballthemen beginnen, versucht sich der Präsident mittlerweile an einer Kurskorrektur – in eher intellektuellen Kreisen der sozialen Netzwerke waren seine Worte schlecht aufgenommen worden. De Sousa betonte das Problem der Menschenrechte in Katar. Resultat: Noch vor dem ersten Spiel der Nationalelf stellte Katars Regierung den Botschafter Portugals zur Rede.

Wie es um die Menschenrechte asiatischer Einwanderer in Portugals Landwirtschaft steht, weiß jeder hier: Bei Temperaturen von über 50 Grad schuften sie in Gewächshäusern und sind in Baracken untergebracht, oft ohne das Geld zu sehen, für das sie arbeiten. Miguel Szymanski

Japan: Endlich wieder Public Viewing

Japan wolle sich nur auf den Fußball konzentrieren, so Kozo Tashima, Chef des Japanischen Fußballverbands JFA, nach der Fifa-Ankündigung, das Tragen der „One-Love“-Armbinde zu sanktionieren. Er hoffe, dass andere Teams das genauso sehen würden. Die Kontroversen zu Katar, zum Umgang mit Frauen und LGBTQ-Rechten und zur Rolle der Fifa waren im Vorfeld der WM auch in japanischen Medien ein Thema. Zum Boykott aber rief niemand auf. Im Umgang mit Arbeitsmigrant:innen hat Japan selbst keine weiße Weste. Sport und Politik werden normalerweise strikt voneinander getrennt behandelt. Eigentlich geben Baseball und Sumo den Ton an. Doch seit der Gründung der J-League vor bald 30 Jahren gewinnt Fußball rasant an Popularität, was auch mit den „Samurai Blue“, der Nationalmannschaft, zu tun hat.

Nach zwei Jahren Pandemie, in der die Bevölkerung große Versammlungen meiden sollte, feiern die Leute bei der WM wieder gemeinsam. Viele treffen sich in Bars mit Freund:innen, Public Viewing mit Tausenden in Stadien ist nicht selten. Groß war die Begeisterung nach dem Sieg gegen Deutschland. In Tokio strömten die Fans auf die Straßen und feierten auf der berühmten Kreuzung in Shibuya. Tashima bekommt, was er wünscht: In Japan geht es ausschließlich um den Sport. Alina Saha

USA: Der Außenminister war im Stadion

Das Interesse am „World Cup“ hält sich in Grenzen in den USA. Das erste WM-Spiel der US-Mannschaft (gegen Wales) guckten laut deadline.com knapp zwölf Millionen im englischsprachigen Sender Fox und im spanischsprachigen Univision. Zum Vergleich: Nach Angaben der National Football League saßen bei regulären Footballspielen in der Saison 2021 im Schnitt 17,1 Millionen Menschen vor dem Bildschirm; Football, das ist das Spiel der behelmten Männer und dem eierförmigen Ball.

Fox verzichtet weitgehend auf Kontroverses. Der Sender gehe davon aus, dass die Zuschauer „zu uns kommen, um den World Cup zu sehen“, zitierte die Washington Post einen Sprecher. Ein Sponsor der WM-Berichterstattung bei Fox ist Katars staatliche Fluglinie Qatar Airways.
US-Außenminister Antony Blinken hat das Unentschieden gegen Wales vor Ort gesehen. Er lobte die „kulturellen Brücken“ durch Sport und kritisierte die Kapitänsbindenentscheidung der FIFA. Beim Thema Ausbeutung der Arbeiter beim Stadionbau war Blinken zurückhaltender. Katar habe Fortschritte gemacht bei Arbeiterrechten. Katar ist einer der wichtigsten militärischen Verbündeten im Nahen Osten; der dortige Luftwaffenstützpunkt Al Udeid Drehkreuz für Operationen weltweit. Tausende US-Streitkräfte sind in Katar stationiert.

Katars Diskriminierung gegen LGBTQ-Menschen wurde in zahlreichen US-Medien aufgegriffen. Freilich haben konservative republikanische Politiker in den USA selber den Kulturkampf in diese Richtung verschärft. Am 19. November hat ein Täter in einem LGBTQ Club in Colorado fünf Menschen erschossen.

Die WM 2026 findet in Nordamerika statt, mit 48 Mannschaften in 16 Städten in den USA, Kanada und Mexiko. Das US-Außenministerium richtet eine Arbeitsgruppe ein zusammen mit Katar, um „das Erbe des FIFA World Cup Qatar 2022“ zu erörtern und auf 2026 vorzubereiten. Konrad Ege

Australien: Rugby ist eh spannender

Die Australier haben eine eigenwillige Beziehung zum Fußball. Einerseits spielen auf dem sportbesessenen Kontinent mehr als die Hälfte aller sechs bis 13-Jährigen Jungen und Mädchen aktiv den Ballsport, der dort nach wie vor eher Soccer als Football heißt. Im Sportteil der Wochenendzeitung findet der World Cup 2022 allerdings frühestens auf Seite sieben statt – hinter den auch sonst in der kollektiven Wahrnehmung deutlich präsenteren Aktivitäten Pferderennen, Cricket und Rugby.

Sechs Mal hat sich das männliche Nationalteam bisher für eine Weltmeisterschaft qualifiziert, seit 2006 sind die „Socceroos“ jedes Mal dabei. 2006 war auch das Jahr, in dem die Australier das Achtelfinale erreichten und eine Art Begeisterung sogar im eigenen Land entfachten – die abrupt erlosch, als Italien sie in der Nachspielzeit mit einem umstrittenen Elfmeter aus dem Turnier kickte. Meistens aber rangiert Fußball im wahren Wortsinn unter „Ferner Liefen“ und bleibt für Australier – die für ein Match der Rugby-Union, Rugby League oder Aussie Rules den Geburtstag bester Freunde ignorieren würden – irgendwie exotisch: „Wie kann an ein Spiel, in dem vielleicht ein Tor fällt, spannend sein?“ fragen Australier, die für Aussie-Rules-Endstände von 79:58 fiebern.

Vielleicht liegt es auch am Dasein als medialer Nischensport, dass die negativen Begleiterscheinungen der WM in Katar für die Australierinnen und Australier ebenfalls eher kleine Rollen spielten. Über die Ausbeutung der Arbeiter in den Stadien haben die Medien berichtet, ja. Ein richtiger Aufreger war es nicht. Dass „Korruption“ und „FIFA“ keine Welten trennen, überrascht seit Australiens eigener erfolgloser Bewerbung für die WM 2022 ebenfalls die wenigsten.

Die Diskriminierung von Homosexuellen in Katar war ein Thema in Australien, hätte aber vielleicht höhere Wellen geschlagen, wenn die weibliche Nationalmannschaft in das Wüstenland hätten reisen müssen. Die FIFA-Rangliste registriert Australiens Frauenelf an elfter Stelle. Eine Weltmeisterschaften haben die „Matildas“, zwar nie gewonnen, aber sieben Mal waren sie mit viel Erfolg dabei. 2023 sind sie mit Nachbarin Neuseeland Gastgeberinnen der WM. Und Kapitänin Sam Kerr, die seit 2020 für Chelsea spielt, ist mit einer Frau zusammen. Das wäre in Katar problematisch gewesen, und hätte dann wohl auch in Australien für mehr Aufregung gesorgt. Julica Jungehülsing

Ecuador und Kolumbien: Beckenbauer? Einladung zum Rum!

In Kolumbien, Ecuador und allen Regionen des lateinamerikanischen Kontinents sind die 29 tollen Tage ausgebrochen. Fast so wie Karneval in Rio. Fußballfieber überall: Im Fernsehen und im Radio, auf der Straße. Tooor-Schreie gehen durch Mark und Bein. Kinder spielen auf Plätzen die Spiele nach im kunstvollen Fußballballet, begnadeten Tänzern ähnelnd. Fußball First: Die Katar-Kritik ist hier kein Thema. Lateinamerika begeistert sich natürlich zuerst für seine eigenen Erdteil. Wobei Kolumbianer keine Schwierigkeiten haben, mit den WM-Teilnehmern Mexiko, Brasilien und Argentinien zu fiebern. Sogar mit dem inzwischen ausgeschiedenen Nachbarn Ecuador. Gegen Ecuador hatte die kolumbianische Elf im Oktober das entscheidende Spiel und damit den Katar-Zuschlag verloren.

Dass Deutschland seinen WM-Einstieg mit der Niederlage gegen Japan so verpatzte, wird hier heftigst bedauert. Namhafteste Kolumbianer haben beim FC Bayern München gespielt und Medellíns Taxifahrer können einem die Namen vieler deutscher Spitzenspieler herunterbeten. Franz Beckenbauer, mittlerweile auf einem Auge erblindet, in Stadien nicht mehr zu sehen, aber einer der entscheidenden Weichensteller für Katar, gleichwohl mit Unsauberkeiten belastet, ist wie Pelé ein Fußballgott. Ihn zu erwähnen und sich als Deutscher zu outen, kann Freudenschreie auslösen und einem die Einladung zu einem Kaffee, Bier oder Rum einbringen. Wolfgang C. Goede

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