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Mannheim: Das Gefühlschaos um die Adoption eines thailändischen Jungen

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		Mannheim:  Das Gefühlschaos um die Adoption eines thailändischen Jungen

Von Steffen Blatt

Mannheim. Ich fühle mich wie eine Entführerin." Dieser Gedanke schießt Heike Halblaub durch den Kopf, als sie mit dem fünfeinhalbjährigen Jungen an der Hand und ihrem Mann Rolf Scharpf zum Taxi läuft. Der Kleine ist still, stiller noch als vor ein paar Minuten, als sie zusammen gespielt haben. Jetzt schaut er sich um, schaut zum "Thai Red Cross Children Home", das er nun für immer verlassen soll. Im Taxi beginnt er zu weinen. Scharpf nimmt den Jungen in den Arm. "Wir sind jetzt eine Familie" sagt er immer wieder. "Mama, Papa, Jiranun." So heißt der Junge. Es ist der 16. September 2014, sie sind in Bangkok – und sie holen Jiranun ab, der von nun an ihr Adoptivkind sein wird.

Auch über sechs Jahre später gehen dem Ehepaar die Schilderungen nahe, das Gefühlschaos, das an diesem Tag in ihnen herrschte. Glück, Freude – und dann plötzlich Bestürzung, der Gedanke, dass man ein Kind aus seiner gewohnten Umgebung herausreißt. Die Sorge, als Jiranun im Hotelzimmer seine Schuhe nicht ausziehen und seinen Rucksack nicht absetzen will. Und die Erleichterung, als dann doch plötzlich alles gut wird – als der Junge den Pool sieht und von da an nur noch ins Wasser möchte. "Das war der Moment, als es Klick gemacht hat", sagt Heike Halblaub. Am nächsten Tag geht Jiranun fröhlich für einen letzten Besuch ins Kinderheim – und fröhlich wieder raus. "Mama, Papa, Jiranun" wiederholt er von da an monatelang und freut sich dabei.

Für Heike Halblaub und Rolf Scharpf waren diese aufregenden Tage in Thailand der Höhepunkt eines Prozesses, der auch für eine Auslandsadoption ungewöhnlich lange gedauert hat. Sieben Jahre vergingen zwischen der Entscheidung, ein Kind aus einem anderen Land aufzunehmen und dem Tag, an dem sie Jiranun endlich trafen. Üblich sind drei bis vier Jahre. Einiges verlief holprig, in deutschen und thailändischen Behörden, dazu kamen eine Naturkatastrophe, ein Militärputsch – und auch die Schwester des thailändischen Königs spielt in der Geschichte eine Rolle.

Die Entscheidung

Heike Halblaub ist 39 Jahre alt, als sie und ihr Mann – damals 33 – sich 2007 zum ersten Mal Gedanken über eine Auslandsadoption machen. Mit der eigenen Schwangerschaft klappt es nicht. Die beiden Mannheimer reden darüber, informieren sich – und entscheiden: Wir wollen das machen. Beim Landesjugendamt empfiehlt man ihnen die Eltern-Kind-Brücke in Eppelheim, die unter anderem Kinder aus Thailand vermittelt. "Dort hatten wir schon mehrmals Urlaub gemacht und nur gute Erinnerungen. Und es sollte ein Land sein, das wir mögen", erzählt Rolf Scharpf. Bei den ersten Gesprächen bei der Eltern-Kind-Brücke mit der Vereinsvorsitzenden Berit Haas und ihren Mitarbeiterinnen haben die beiden ein gutes Gefühl. Also Thailand.

Die Vorbereitung

Eine Auslandsadoption erfolgt in Deutschland in der Regel über eine staatlich anerkannte Vermittlungsstelle. Sie bereitet die Adoptiveltern in Kursen vor, erstellt Sozialprofile, prüft die generelle Eignung. Sie begleitet die Paare durch den Prozess der Aufnahme und darüber hinaus. Üblicherweise sind die Stellen als gemeinnützige Vereine organisiert, auch die Eltern-Kind-Brücke. Sie sind verpflichtet, auf der Grundlage des "Haager Übereinkommens" zu arbeiten. Diese internationale Übereinkunft regelt die Zusammenarbeit bei Auslandsadoptionen und setzt Standards fest, nach denen sie ablaufen. Dadurch soll der Verkauf von Kindern oder Kinderhandel verhindert werden. Von staatlicher Seite begleiten in Deutschland die Landesjugendämter und die lokalen Jugendämter die Eignungsprüfung und den Adoptionsprozess. Ganz schön viele Ansprechpartner für ein Paar, das eigentlich nur eine Familie sein will.

Heike Halblaub und Rolf Scharpf lassen sich darauf ein und beginnen im Januar 2008 mit den Fachgesprächen bei der Eltern-Kind-Brücke. In einem Bewerberseminar setzen sie sich mit Themen auseinander, die für Adoptiveltern wichtig sind: Bindung, Traumaverarbeitung, Biografiearbeit – denn jedes Kind, das adoptiert wird, zumal aus einem Heim und in einem gewissen Alter, hat schon mindestens einen Bruch in seinem Leben hinter sich, vielleicht auch Schlimmeres.

Die beiden füllen ein "Kinderprofil" aus: Wie alt soll das Kind bei der Adoption sein? Mädchen oder Junge? Kann es eine Behinderung haben, und wenn ja, welche? Besonders der letzte Punkt bringt das Paar in ein moralisches Dilemma. Natürlich wünscht man sich ein gesundes Kind. Aber erhöht es die Chancen, wenn man ein leichtes körperliches Handicap in Kauf nimmt? Und darf man überhaupt so denken? "Da haben wir ziemlich gehadert. Aber Frau Haas und ihre Mitarbeiterinnen haben uns darin bestärkt, genau das anzugeben, was wir möchten", erklärt Rolf Scharpf. Sie geben schließlich beim Alter maximal 3,9 Jahre an, beim Geschlecht legen sie sich nicht fest, Behinderungen schließen sie aus.

Halblaub und Scharpf müssen ihrer Akte Empfehlungsschreiben beilegen, Führungszeugnisse, medizinische und psychologische Berichte, sie müssen ihre Finanzen offenlegen, ihre Wohn- und Arbeitssituation. Dass die Bewerber so durchleuchtet werden, hat einen guten Grund, sagt Berit Haas: "Die abgebenden Länder haben eine Riesenverantwortung. Sie schieben die Kinder nicht ab – sie wollen vielmehr, dass sie ein gutes Zuhause haben." Darum kommt eine Auslandsadoption auch erst dann infrage, wenn alle Möglichkeiten im Inland ausgeschöpft sind. Und darum sind die Kinder auch in der Regel etwas älter.

Im September 2009 ist die Akte schließlich komplett. Jetzt muss sie übersetzt werden, dann wird sie nach Thailand geschickt – für Heike Halblaub und Rolf Scharpf beginnt nun die schwierigste Phase des Adoptionsprozesses.

Das Warten

Etwa drei Jahre dauert es in der Regel, bis ein Paar einen Kindervorschlag erhält. "Nach zweieinhalb Jahren wurde ich nervös. Im dritten Jahr habe ich angefangen, bei der Eltern-Kind-Brücke zu nerven", erzählt Heike Halblaub. Monat für Monat geht ins Land, Halblaub und Scharpf werden immer unruhiger. Für die Verzögerung ist auch die größte Hochwasserkatastrophe seit 50 Jahren in Thailand verantwortlich. Nach ungewöhnlich starken Monsunregen sind im Juli 2011 mehrere Provinzen überflutet, darunter auch die Hauptstadt Bangkok, die Verwaltung ist lahmgelegt. Im Juli 2013 endlich meldet sich die Eltern-Kind-Brücke.

Der Vorschlag

Als Halblaub und Scharpf bei Berit Haas in der Vermittlungsstelle sitzen, liest die ihnen zunächst den Namen des Kindes vor und den Bericht über sein bisheriges Leben: Herkunft, Krankheiten, Verhalten. Dann sollen sie kurz hinausgehen und einen kleinen Spaziergang machen, sich überlegen, ob sie Jiranun annehmen. "Die Entscheidung war schon gefallen, als wir raus auf die Straße gekommen sind", erinnert sich Halblaub. Natürlich nehmen sie das Kind an. Zurück bei der Eltern-Kind-Brücke zeigt Haas ihnen drei Fotos von Jiranun. "Er sah aus wie mein Bruder als Kind", berichtet Halblaub. Sie sind sich sicher: Das ist unser Sohn. Jiranun ist damals knapp über vier Jahre alt.

Jetzt geht alles ganz schnell, denkt das Paar: Drei bis sechs Monate dauert es üblicherweise, bis das Schreiben mit dem Termin zur Abholung eintrifft. Sie streichen das Kinderzimmer und richten es ein, klären mit ihren Arbeitgebern, wer wie Elternzeit nimmt, packen Koffer für die schnelle Abreise. Sie erstellen ein Fotoalbum für Jiranun und schicken es nach Thailand, zusammen mit einem Kuscheltier und Geschenken. Gleichzeitig wird der Junge auf seine künftigen Eltern vorbereitet. Sozialarbeiter schauen mit ihm das Album an, Freiwillige lesen mit ihm deutsche Kinderbücher. Doch es kommt kein Abholtermin. Nicht nach drei Monaten, nicht nach sechs.

Erneut verzögern Kräfte den Prozess, für die keiner der Beteiligten etwas kann. Denn in Thailand wird die politische Situation zunehmend unruhiger, am 20. Mai 2014 übernimmt das Militär in einem Staatsstreich die Macht im Land. Zudem kündigt sich die Schirmherrin von Jiranuns Kinderheim für einen Besuch an – und sie ist niemand Geringeres als die Schwester des thailändischen Königs. Die Vorbereitungen dauern Monate und beschleunigen den Adoptionsprozess des deutschen Paares ebenfalls nicht gerade.

In Bangkok

14 Monate nach dem Kindervorschlag bekommen Halblaub und Scharpf Post aus Thailand. Es ist der 8. September 2014, und das Schreiben ist auf Thai verfasst. Zwischen den Schriftzeichen entdecken sie Zahlen, 16 und 9. Ist das der Termin zum Kennenlernen? Nach der Übersetzung durch die Eltern-Kind-Brücke ist klar: Er ist es – und innerhalb von drei Tagen fliegen die beiden nach Bangkok. "Wir sind sonntags angekommen und am Montag haben wir Jiranun zum ersten Mal gesehen", sagt Halblaub. Sie treffen den Jungen in einem Spielzimmer im Kinderheim, ein paar Spielsachen, Bagger, Puzzle. Ein Dolmetscher ist dabei. "Den haben wir aber nicht gebraucht. Jeder hat in seiner Sprache geredet und wir haben uns verstanden", erinnert sich Scharpf. Am nächsten Tag nehmen sie ihren Sohn mit in ihr Hotel – und ihre Gefühle fahren Achterbahn.

Zu Hause

An all das hat Jiranun keine Erinnerung. Vielleicht hat er es verdrängt. Das erste, an das sich der heute Elfjährige erinnert, ist die Wohnung der Familie in Mannheim. "Und an die Katze, die hat mich gekratzt." Die ersten Monate bleibt er zu Hause, damit er die Bindung zu seinen Eltern aufbauen kann, dann geht er in den Kindergarten. "Er war völlig unkompliziert und ist auf alle Menschen offen zugegangen. Auch unser Umfeld hat ausnahmslos positiv auf die Adoption reagiert", erzählt seine Mutter. Um ihm ein bisschen mehr Zeit zu geben, wird Jiranun ein Jahr später eingeschult, heute besucht er die fünfte Klasse einer weiterführenden Schule. Seine Lieblingsfächer: Mathe, Deutsch und Englisch.

Seine Muttersprache allerdings hat der Junge verlernt. Zu Beginn bauen seine Eltern Kontakte zu anderen Thais auf, damit Jiranun die Sprache sprechen und hören kann. Doch er hat kein Interesse. Nach einem halben Jahr versteht er noch Thai, nach einem Jahr ist alles weg. Das ist nicht ungewöhnlich, wie Studien gezeigt haben. Offenbar wird die "alte" Muttersprache im Gehirn komplett durch die neue ersetzt. Die Familie fährt aber weiter nach Thailand in den Urlaub, besucht auch Jiranuns Kinderheim und seine beste Freundin aus dieser Zeit. Jede Reise beginnt an jenem Pool in Bangkok, an dem es damals "Klick" gemacht hat.

Seit November 2018 ist das Adoptionsverfahren abgeschlossen und die Anerkennung in Deutschland vollzogen. Jiranun trägt den Nachnamen seiner Mutter und ist deutscher Staatsbürger.

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