Hohe Schlagzahl am Deich: Ein ostfriesischer Verein pflegt das olympische Boxen aus Tradition und Leidenschaft
Die letzte Boxstunde vor dem Wattenmeer hat eine feste Adresse. Man folgt der Landstraße, die vom Zentrum der Kleinstadt Norden nach Norddeich führt, biegt hinter dem Hotel »Möwchen« links ab, dann rechts und wieder links – schon ist die Wildbahnhalle erreicht. In der weitläufigen Dreifachturnhalle ist jeden Abend unter der Woche Training, denn die knapp 300 zumeist aktiven Mitglieder des Box-Club Norden e.V. wollen bewegt werden. Ob nun auf Spitzenniveau, beim Fitness- oder auch beim Kinderboxen, einer spielerischen Variante für Jungen und Mädchen ab vier Jahren.
So viel Betrieb ist zum einen möglich, weil der Verein die fast 50-jährige städtische Immobilie umsonst nutzen darf. Es hat zum anderen aber auch damit zu tun, dass sich hier gleich eine ganze Riege von Trainern unermüdlich einbringt. Sie holen jeden auf seiner Leistungsebene ab, und mancher stellt sich auch am Wochenende zur Verfügung, um die Youngster zu Vergleichskämpfen zu begleiten. Oldenburg und Groningen, Hannover und Salzgitter, Peine und Gifhorn: Wer in der nordwestlichsten Stadt auf deutschem Festland lebt, muss Kilometer schrubben.
So kommt Michael Bochardt im Jahr schon mal auf 60.000 Kilometer, die er mit dem Auto zurücklegt. Trotzdem hat es noch keinen Tag gegeben, an dem der leitende Trainer des BCN sich nicht auf die nächste Aufgabe im Verein freut. »Das ist einfach das Engagement«, sagt der Mittfünfziger mit der drahtigen Statur und dem festen Blick. »Außerdem spiegelt sich das auch in den Erfolgen wider, und die bestätigen mich.«
Engagement ohne Limit: Hier schrubben die Trainer Kilometer
Die ›hinterste Ecke‹: Das ist eben nur so ein abgedroschenes Klischee von Ostfriesland; ähnlich wie das von der Einöde, wo der Hund verfrorenen ist. Tatsächlich ist der 1957 gegründete Verein aus der ›Grünen Stadt am Meer‹ (25.000 Einwohner) ein echter Hotspot im olympischen Boxen. Er bringt in den Niedersächsischen Boxsport-Verband (NBSV) sowie in den Regionalverband Weser-Ems mehr Aktivität ein als die meisten anderen. Etwa vierzehn Mal im Jahr steigen in der Wildbahnhalle regionale bis internationale Kampftage. Den Ring dazu bauen Bochardt und seine eingespielten Helfer mittlerweile in einer Stunde auf, »und in 45 Minuten ist der wieder abgebaut«.
Ein Kämpfer, der etwas werden will, braucht schließlich Kämpfe, ist man in Norden überzeugt. Außerdem gehört es zur DNA des Vereins, Leistungsträger hervorzubringen. Sonst hätten Norder Asse kaum 17 deutsche Meisterschaften und mehr als 280 niedersächsische Landestitel in allen Altersstufen holen können. Nicht zu vergessen die Bronzemedaille, die Karl-Heinz Tröster bei der Junioren-EM 1970 in Ungarn gewann. So ruhen die Hoffnungen nun auf Roy Grosch-Zamora, der bei der letztjährigen U19-DM ins Finale (bis 63,5 Kilo) kam. Und auf Ousmane Diallo, der sich mit 15 aus Guinea-Bissau absetzte, um mit 23 Landesmeister (bis 60 Kilo) sowie Mitglied der Chemnitzer Bundesliga-Staffel zu werden.
Dass beide Aktive bei den Wahlen zum Norder Sportler 2024 die Plätze 1 und 2 belegt haben, noch vor den Besten im Fußball, Handball und Straßenboßeln, kommt für Helmut Jacob auch nicht von ungefähr. »Bei uns gibt es weniger Massen«, erklärt der 82-jährige Ehrenvorsitzende des BCN. »Aber die Menschen, die hier sind, fühlen sich mehr zugehörig. Da können Sportler sich auch besser profilieren, wenn sie was erreichen. Das kommt viel mehr zum Tragen…«
Der Routinier mit dem Gehstock weiß, wovon er spricht. Inspiriert vom Oldenburger Hein ten Hoff, dessen Profikämpfe er am Radio verfolgte, wurde er mit 13 aktives Mitglied im Verein. Sein Vater hatte den mitbegründet und nahm ihn an die Hand, wenn im Vorzeige-Hotel ›Deutsches Haus‹ geboxt wurde. Da reichte mitunter schon eine Bezirksmannschaft, um den Saal fast platzen zu lassen. Athleten wie Edmund de Vries, Gerhard Standschus und allen voran Rolf Betten, Bezwinger von Markus Bott, waren schließlich Lokalhelden; sie konnten an einem guten Tag jeden deutschen Konkurrenten schlagen.
Falle für Favoriten: In Norden haben auch deutsche Meister schon verloren
»Von denen ist auch kaum einer weggezogen«, sagt Jacob. »Die haben hier ihre Ausbildung gemacht, studiert haben ja nur die wenigsten. Heute ist es genau umgekehrt.«
Auch Helmut Jacob blieb. Und wurde in den nächsten Jahrzehnten beinahe alles: Staffelboxer und Jugendtrainer, leitender Trainer und erster Vorsitzender des BCN, dazu Sport- und Jugendwart beim Weser-Ems-Verband sowie Landestrainer des NABV bzw. NBSV über 15 Jahre. Ein Mann mit vielen Hüten, wie es ihn im deutschen Boxsport nicht wenige gibt. Bis ihn vor acht Jahren zwei Hirntumore und die therapeutischen Maßnahmen dagegen von einem Tag auf den anderen aus dem Verkehr zogen: »Ich konnte ja gar nichts mehr.«
Also erhielt sein damaliger Assistenztrainer Michael Bochardt einen Anruf, den er seither nie vergessen hat. ›Ich komm´ nicht mehr‹, sagte Jacobs Stimme ihm. ›Kannst du übernehmen?‹ Da habe er erstmal schlucken müssen, so Bochardt, »dann sagte ich, okay, ich mach das für Dich, Helmut. Und hab es durchgezogen…«
Nahtloser Übergang: Ein ›Verrückter‹ folgte auf den nächsten
Heute hat Bochardt mindestens ebenso viele Mandate wie sein Vorgänger. Er ist leitender Trainer und Vorsitzender des BCN, Sport- und Jugendwart des Verbands Weser-Ems sowie Sportwart des NBSV. Dazu kümmert er sich so gut es geht um Sponsoren für den Verein. Das kommt so hin, weil der gelernte Industriemechaniker nach einer Tumorerkrankung früh erwerbsunfähig wurde. Und im nahen Marienhafe mit einer Frau verheiratet ist, die ihn nie anders erlebt hat, wie er betont. So betrachtet, hat da ein Generationswechsel nahezu reibungslos funktioniert – auch wenn es Knall auf Fall losging.
»Ich mache mir nur Sorgen, dass er mal krank werden könnte, weil er so viel macht«, sagt Jacob – wohl wissend, dass sein Nachfolger gerade auf einem Pott Kaffee neben ihm sitzt. »Der Verein steht und fällt doch mit der führenden Persönlichkeit.« So´n Zeug wischt Bochardt jedoch lieber zur Seite: »Mich macht es stolz, dass ich das so fortführen durfte. Und mit dem neu besetzten Landesverband kann ich sehr gut zusammenarbeiten. Da macht die Arbeit Spaß.«
Eine Stunde später macht Bochardt dann wieder los, um die nächsten Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Halle anzuleiten. Und wer wüsste besser mit ihnen umzugehen als er, auch wenn er seine Empathien gern hinter energischen Ansagen versteckt? »Mir ist sehr wichtig, dass die alle vernünftige Menschen werden und Respekt lernen«, hat er vorhin noch gesagt. »Darum kümmere ich mich auch um alles.«
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